Landschaft vom Wasser aus

Oderbruch – was ist das?

Als ich das erste Mal das Wort Oderbruch hörte, dachte ich an Bruchwald und Sümpfe, üppigen Pflanzenwuchs, undurchdringliche nasse Auwälder und entsprechende Tiere wie Biber, Fischotter und an Gewässer voller Fische. Ich dachte an laichende Hechte in kleinen Gräben im März und an Fischotterranz – Gezanke im späten Herbst.

Dann bekam ich eine Gewässerkarte in meine Hände, studierte sie voller Interesse in dem Glauben, einen zweiten Spreewald vor mir zu haben. Es kam die Zeit der Internetrecherche und der freien Zugänglichkeit von Luftaufnahmen. Ich sah die Oder und ich suchte das Oderbruch, dieses riesige Feuchtgebiet, wie ich dachte. Ganz langsam begriff ich, daß ich hier einer großen Täuschung erlegen war und daß das, was heute „Das Oderbruch“ genannt wird, nichts mit dem zu tun hat, was ich mir immer vorgestellt hatte. Ich nahm allmählich wahr, daß ich es hier mit einer trockengelegten Kulturlandschaft zu tun habe, in der nur der Name geblieben ist und an etwas sehr Altes erinnert, das niemand mehr aus eigener Anschauung kennt und das nur wenige Menschen ansatzseise beschrieben haben (z.B. Theodor Fontane).

Ich plante dann vor einigen Jahren, das heutige Oderbruch zu erkunden, und Landschaft zu erkunden heißt bei mir immer: zunächst mit dem Kanu, dann mit Fahrrad und an vielen Orten auch noch zu Fuß. Immer, wenn ich eine Flusslandschaft erkunden will, beschaffe ich mir Karten, Fotos und sonstige Informationen, um mich zu informieren. Die Karten, die ich kaufte, vermittelten mir, daß die meisten Gewässer im Oderbruch für das Kanufahren gesperrt seien. Die Information kam vom Deutschen Kanuverband, also mußte doch was dran sein. Allerdings konnte ich mir nicht vorstellen, warum das so sein sollte und so telefonierte ich mit verschiedenen Kanuvermietern der Region und Angestellten des Landesumweltamtes. Es stellte sich heraus, daß hier Dinge, die andernorts ganz einfach stattfinden, mit größtmöglichten Hindernissen versehen werden. Konkret fand ich jedoch keinen belastbaren Grund, hier nicht zu paddeln, denn es gab kein NSG (abgesehen an der Südseite des Oderberger Sees mit der Alten Finow, aber das war ja ohnehin für mich klar).

Die Affäre mit der angeblichen Gewässersperrung hat mich vorerst ein wenig zurückschrecken lassen. Weil ich jedoch inzwischen für das Internetportal http://www.flussinfo.net Gewässererkundungen durchführe, setzte ich das Oderbruch wieder auf meine Prioritätenliste. Da zuerst der Finowkanal und dann die Stromoder an der Reihe waren, hatte ich das Oderbruch sozusagen schon einmal umrundet. Dabei waren mir schon so manche Zusammenhänge klar geworden, und ich nahm jede Gelegenheit wahr, bei Autofahrten über die B167 sowie die B1 in den Ortschaften wie Wriezen oder Letschin, Gorgast und Zechin nach Gewässern Ausschau zu halten, die paddelbar aussahen. Es war nicht viel, was ich zu sehen bekam.

Bei der Finowkanalerkundung paddelte ich auch aus Neugier einige Kilometer die Wriezener Alte Oder hinauf und wieder hinunter und fand, wenigstens das „Niederoderbruch“ sei noch ein wenig als Bruch – und Auenlandschaft zu erkennen und die Alte Oder ein richtiger Fluss. Zu Hause suchte ich dann auf Luftbildern (Google-Maps) die sonstigen Oderbruch-Gewässer, um deren Dimension zu erahnen. Was ich fand, waren Felder, äußerst wenig Wald und noch viel weniger Feuchgebiete, durch schmale Wasserläufe miteiander verbunden.

Mit diesem Wissens – und Bewußtseinsstand ging ich 2009 daran, alle paddelbaren Gewässer des Oderbruchs richtig kennenzulernen. Ich beschloß, alle vermeintlichen Gewässersperrungen zu ignorieren und ermittelte für meine Planungen, welche Gewässer sich ab welchem Ort für eine längere Paddeltour eignen würden. Es ergab sich, daß meine Familie und ich um Himmelfahrt herum schon einmal in der Odergegend waren und da sind wir einige Kilometer der Stillen Oder/Mucker und Laufgraben abgepaddelt und waren sehr überrascht, daß wir zwischen Neutornow und Spitz unerwartet viel Naturraum an den Gewässern vorfanden, der auch mit üppiger Pflanzen – und Tierwelt belebt war.

Meine eigenen Planungen sahen dann vor, hauptsächlich die beiden längeren Altwässer Alte Oder ab Reitwein über Neu-Manschnow, Gorgast, Golzow, Friedrichsaue, Zechin, Letschin, Bochowsloos, Wriezen, Neutornow, Schiffmühle, Wriezen und Bralitz nach Oderberg, dazu die Alte Oder mit Quappenkanal, Friedländer Strom und Neuen Kanal bis Wriezen abzupaddeln. Daneben wollte ich noch den Freienwalder Landgraben erkunden und die Güstebieser Alte Oder so gut es ging zu Fuß und mit dem Fahrrad.

Für die erste Strecke benötigte ich planmäßig 4 Tage (74 km) und für den zweiten Abschnitt von Neulangsow/Werbig bis Wriezen (25km) noch einmal einen langen Tag.

Was fand ich vor auf meinen Erkundungen? – mich überraschte, wieviel Naturerlebnis der kleine Rest an Feuchgebieten im Oderbruch dem Kanutouristen zu bieten hat: fast überall war es abwechslungsreich, von üppigem Pflanzenwuchs und wild, von einigen wirklich faden Einlagen abgesehen. Wo man die Natur gelassen hat, hat sie sich derart entfaltet oder ihr ursprüngliches Gesicht bewahrt (wer kann das wissen), so daß ich mir immer mehr vorstellen konnte, wie es hier in der Kulturlandschaft Oderbruch wohl ausgesehen hat, bevor die Menschen sie in ihre Gewalt gebracht haben.

In meinem Kopfkino sah ich Fischer mit Netzen und Körben hantieren, mit flach gehenden Kähnen um kräftige Silberweiden herum stakend oder wriggen, große und kleine Fische nach Hause bringen, über Lehmöfen räuchern und in Eichenfässern in Salzlake einlegen. Ich sah, wie Bandreißer Weidenruten zu Faßreifen auftrennten, wie Frauen Körbe flochten, wie Ziegen und Schafe auf bunten Gräsern weideten. Ich sah haufenweise Weidenschößlinge im Wasser auf Vorrat liegen.

Gleichzeitig wurde mir klar, daß man heute nur noch mit dem Kanu diesen Rest des Oderbruchs erleben kann. Mit dem Fahrrad kann man viele Kilometer zurücklegen, Kultur, Kunst, Museen und Fahrtwind genießen und sich auf den Oderdeichen an der schönen Aussicht auf die kräftig strömende Oder erfreuen. Auch auf dem Fahrrad kann man Stille und Einsamkeit erfahren, wie im Kanu auch. Aber man kommt einfach kaum dahin, wo es lebt, das Oderbruch, Reste von Bruch – und Auenlandschaft, auch wenn die einstigen Bewohner nicht mehr anwesend sind. Aber das ist diese Art von Naturnutzern ja nirgendwo mehr, das ist normal. Daran haben wir uns gewöhnt. Aber daran, daß eine Landschaft komplett durch eine andere ausgetauscht wird, kann und will ich mich nicht gewöhnen.
Das berührt mich sehr.

Quappendorfer Kanal
Quappendorfer Kanal – ganz überraschend wird das Gewässer breiter, und links steht auf erhöhtem Gelände ein Kiefernwald. Eisvögel nutzen die höheren Ufer als Nistmöglichkeiten, es duftet im Hochsommer nach Kiefernharz. Die höhere Lage zeigt an, daß es hier auch schon in früheren Zeiten trocken gewesen sein muß.
Stille Oder
Stille Oder – sie macht ihrem Namen alle Ehre, die Stille Oder: abgeschieden von Ortschaften, kaum Strömung, an manchen Stellen noch mit Sumpf umgeben verzaubert die Stille Oder jeden, der sich selbst in die innere Stille begibt. Wir verlieren hier ganz schnell den Bezug zu unseren bisherigen Tagesgeschäften. Tiere wie Biber, Störche, Schwarz- und Rotmilane haben hier eine nachhaltige Bleibe gefunden. Schwarzspechte nutzen gerne das reichhaltig vorhandene Totholz.
Alte Oder
Alte Oder bei Herzenshof (Neumanschnow) – hinter Herzershof fließt die Alte Oder, von Reitwein kommend, durch eine äußerst verschwiegene Landschaft, zu der man kaum mit Fahrzeugen gelangen kann, außer mit Traktoren. Hier möchte man bleiben, wenn nicht die vielen Stechmücken und Blindfliegen unser Blut so lieben würden. Die Zivilisation ist weit ab, und so wähnt man sich auch hier in einer anderen Zeit, etwa jener, wo Fischer ohne Mühe ihre Tagesration und mehr in kurzer Zeit nach Hause bringen konnten, einfach weil es sehr viele Fische gab. Es gab sie deshalb, weil die Fischbrut ungeheuer viel Flachwasser neben dem Flusslauf zur Verfügung hatte, in dem sie sich in der Sonne wärmen und wo sie sich sattfressen konnte. Auch war sie unentbehrliche Nahrung für größere „Faunische Einheiten“ wie Wasservögel und eben auch Fische.
Förstersee
Förörstersee – hier muß man den vergangenen Oderteilarm nicht erahnen, hier kann man ihn noch erleben, wenn auch ohne Strömung: im Vergleich zu den vorherigen Alte-Oder-Armen ist er ein See, doch man muß sich vorstellen, daß viele größere und kleinere solcher Oderarme noch vor gut 250 Jahren das gesamte Oderbruch durchzogen. Die Flora mag etwas anders ausgesehen haben, da es ja durchaus Strömung gegeben hat.stersee
Wriezener Alte Oder
Wriezener Alte Oder – heute ein sehr stiller Oderarm mit wenig Strömung, wird es hier vor dem Durchstich bei Hohenwutzen völlig anders ausgesehen haben: sehr viel breiter, sehr viel tiefer aber mit vielen flachen Stellen, Strände an beiden Ufern werden sich mit den Gehölztypen abgewechselt haben, die wir hier heute haben. Es gab keine Deiche, dafür ab und an eine Furt. Wegen der vehementen Strömung wird die Oder eine Gewässerdynamik besessen haben, die wir heute nur noch von Gebirgsbächen wie dem Oberlaufs des Lech kennen: Sandbänke, die heute hier und morgen dort sind; sich ständig verlagernde Ufer; extrem wenig Gehölze direkt an den Ufern, dafür viele Nebengewässer mit den typischen Bruchgehölzen, wie wir sie noch bei Bralitz abseits des linken Ufers finden.
Richtgraben
Richtgraben – dieser Graben ist ein klarer Bach mit sehr vielen engen Windungen, wie er für kleine Flüsse typisch ist. Wir glauben, daß es sich hier auch um ein durchaus natürliches Nebengewässer der Oder handelt, da man ja die anderen künstlichen Vorfluter als gerade Kanäle angelegt hat wie z.B. den Letschiner Hauptgraben.
Alte Oder
Alte Oder – diese „Alte Oder“ fließt bei Gusow. Bei den höheren sommerlichen Wasserständen 2009 vermittelte sie uns ein wenig von den Eindrücken, die man von Hartholzauen bekommt: Eschen und Eichen stehen im Wasser und trotzen zeitweiligen Überflutungen. Zwischen ihnen breitet sich Kleinblatt, Fadenalge, Froschbiß, aber auch die Ohrweide, Schwarzerle und verschiedene Schilfgewächse aus. Genau so kann es auch in früheren Zeiten gewesen sein, als das Wasser des Oderstroms sich im flachen Land weit verzweigte, bis der Mensch in seinem Omnipotenz-Wahn seinen Gewalten Einhalt gebot und sich das gewonnene Land zu eigen machte. Der „einfache Mensch“ hätte so etwas allerdings niemals freiwillig auf sich genommen, da er sich schon seit Urzeiten der Natur angepaßt hat und nicht umgekehrt. Damit ist die Menschheit immer gut gefahren, hat schon früh die nötige Weisheit entwickelt, die nötig ist, die Gefahren in der Natur rechtzeitig wahrzunehmen und ihnen auszuweichen. Nur der Machtwahn der Herrscher in Konkurrenz zueinander brachte die Menschen dazu, sich der Natur entgegen zu stemmen anstatt das zu nutzen, was die Natur freiwillig hergab.

Die Natur des Oderbruchs zu erleben, dafür benötigt man ein Kanu und sehr viel Zeit. Wenn die Bewohner selbst das tun würden, jeder mindestens für ein paar Tage, dann bekämen sie ein Bewußtsein für Bruch – und Auenlandschaft, für Wasserdynamik und Gefälle, für die Tatsache, daß viele von ihnen auf einem ehemaligen Flussgrund leben. Dieser bis jetzt meist trockene Flussgrund ist nur solange kein Fluss, solange die Bewohner die nötige Energie und Ordnungskraft investieren. Aber auch dann kann die Entropie zuschlagen und in Form einer veränderten Oder mit erheblichen Wasserzunahmen ihre eigene Ordnung durchsetzen.

Jeder Naturmensch überlegt sich abends genau, wo er sein Bett aufschlägt, ob es dort sicher ist oder nicht. Warum nicht der moderne Kulturmensch? Er darf niemals vergessen, daß die Natur nicht beherrschbar ist, von keiner menschlichen oder technischen Kraft der Welt. Außer ein paar Pyramiden und einzelnen Bauwerken ist bisher alles, was Menschen geschaffen haben, über die Jahrhunderte durch die Natur wieder in Besitz genommen worden. Da ist es gut, vorgesorgt zu haben.

Ich jedenfalls hätte im Dachgeschoß meines Hauses ein Boot, und ich würde kein Haus dorthin bauen, wo einst ein Fluss sein Wasser hat fließen lassen. Man müßte schon sehr viel Boden oder Beton aufschichten, um zuverhindern, daß der Fluss eines Tages wieder dorthin zurückkehrt, wo er schon einmal geflossen ist. Selbst an dem gigantischsten Küstenschutzbauwerk in Schleswig-Holstein, dem Eidersperrwerk, das aus Tausenden von Tonnen Beton und Stahl errichtet wurde, nagt der Zahn der Zeit bzw. der Eider und der Nordsee. Es sackt ab, es reißt, anliegender Boden erodiert ständig. Man wird es eines Tages neu bauen müssen, oder die Nordsee kommt wieder 30 km und tiefer ins Land wie noch vor wenigen Jahren.

Wir sind es gewohnt, unseren Grundbesitz als etwas sehr konstantes anzusehen, auf festen Säulen ruhend, aber das gilt eben nicht für alle Grundstücke. Es kommt immer auf die Höhe über dem Meeresspiegel an (der sich allerdings in Zukunft auch ändern kann und wahrscheinlich auch wird), und es kommt darauf an, was drunter liegt (Bergbaugebiete haben auch mit entsprechenden Schwierigkeiten zu kämpfen) oder daneben (es gibt auch Erdrutschgegenden, gar nicht weit vom Oderbruch in Oderberg..!). Wir sollten also ein Bewußtsein dafür entwickeln, wohin Wasser im Falle eines Falles fließen könnte. Um das zu entwickeln, sind gute Landkarten mit verläßlichen Höhenangaben ebenso wichtig wie Beobachtungsgabe sowie die Erfahrung, die man mit Kanutouren machen kann. Auf unserem Portal habe ich daher auch einige Höhen des Oderbruchs aufgelistet.

Ich wünsche allen Bewohnern des Oderbruchs immer trockene Füße, ein gutes Dach über und Beweglichkeit in ihren Köpfen, mit zukünftigen Situationen angemessen umzugehen und die zum weiterhin guten Leben nötigen Initiativen zu entwickeln.

Jürgen Clausen

Beschreibung der Oderbruchgewässer:
<<< www.flussinfo.net/oderbruchgewaesser/uebersicht
<<< www.flussinfo.net/oderbruchgewaesser/beschreibung

Kontakt:
Telefon 0431 78 70 150 / Fax: 0431 78 70 153
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Jürgen Clausen

Steckbrief: Mein Name ist Jürgen Clausen, ich wurde 1951 in der Nähe von Flensburg geboren und lebe gegenwärtig in Kiel. Nach ein paar beruflichen Umwegen wurde ich Tischler, den Beruf übe ich jedoch kaum noch aus. Stattdessen erkunde und schreibe ich für www.flussinfo.net, arbeite als Kanuführer u.a. im Nationalpark Unteres Odertal und helfe, wenn ich daheim bin, meine 95jährige Schwiegermutter zu pflegen. Mein Holzkanu für die Flusserkundungen habe ich 2008 selbst gebaut, ein weiteres (diesmal ein Mannschaftskanu für 7 Personen) ist in Arbeit und wird ab Frühjahr 2010 für Naturseminare an der Oder (Oderpolder) zur Verfügung stehen. Im Rahmen meiner Flusserkundungen interessiere ich mich sehr für die landschaftlichen und sozialen Zusammenhänge und bin bemüht, die entsprechende Landschaft auch mit dem Fahrrad und zu Fuß zu erfahren, um sie zu begreifen. Mich faszinieren die verschiedenen Perspektiven sowie die spezielle Qualität an Beobachtungen, die nur durch Langsamkeit zu erreichen sind.

eMail: jclausen@flussinfo.net

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