Kommt rein!
Ein Vortrag auf dem Integrationsfachtag am 24. September 2011 in Seelow.
Von Imma Harms
Mein Anliegen in einem Satz ist: Ich möchte die statischen Leitziele von institutionellem Handeln, die einen für alle befriedigenden Endzustand im Auge haben, in Frage stellen, zugunsten einer dynamischen Betrachtungsweise, die die Qualität der gesellschaftlichen Prozesse in den Mittelpunkt stellt.
1. Wer spricht zu Ihnen
Ich lebe und arbeite im Gutshof Reichenow, einer großen KünstlerInnen-Exklave in der Gemeinde Reichenow-Möglin. Seit Mitte der 90er Jahre haben sich hier an die 50 Künstlerinnen und Künstler angesiedelt haben. Die meisten von ihnen muss man ihrer Herkunft und ihrem Kulturverständnis nach wohl als ausgesprochen städtische Existenzen bezeichnen. Einige von ihnen sind aber im Laufe der Jahre deutlich „verlandet“. Sie sind in die Landschaft eingewachsen und haben hier Wurzeln geschlagen. Zu dieser Gruppe zähle ich mich ausdrücklich.
Reichenow selbst ist ein Grenzland. Für die BewohnerInnen des Barnim und der benachbarten Märkischen Schweiz markiert es die Kante zum Oderbruch, für viele ein kaum bekanntes Gebiet. Für die Menschen aus dem Oderbruch ist es Durchfahrtsgebiet auf dem Weg in ihre Heimat „down under“. Die Unentschiedenheit unserer Lage hat mich von Anfang an motiviert, mich in beide Richtungen zu orientieren, um dort Anknüpfungspunkte und FreundInnen zu suchen – mit dem Ergebnis, jetzt ein vielfältiges Netz an Kontakten sowohl im Oderbruch als auch bei uns „auf der Höhe“ zu haben. Ich wage deshalb zu sagen: Ich weiß, wo ich lebe!
2. Keine drohenden Szenarien
Diesmal soll es nicht um die drohenden Szenarien gehen – diese scheinbar unentrinnbaren Entwicklungen, mit denen uns die Medien überziehen und die wie Litaneien unentwegt wiederholt werden. Ich sage nur ein paar Stichworte:
die demografische Bedrohung, also wir sterben aus, Familien mit Kindern ziehen weg, die Dörfer stehen leer;
die Erosion der Bildungslandschaft, also Schulen werden geschlossen, der Schulweg immer weiter;
der Mangel an ärztlicher Versorgung, also der nächste Arzt ist im Notfall unerreichbar;
die agrar-industrielle Monokultur – Energiepflanzen fressen die Äcker auf, in Krisenzeiten könnte die Region sich nicht mal mehr selbst ernähren;
die Landschaft als Versuchskaninchen – nach dem gentechnischen Zugriff auf die Äcker jetzt die Enteignung des Untergrundes als fragwürdiges CO2-Versteck;
Rassismus und Nationalismus, was meint: der Hass auf alles, was fremd ist.
3. Visionen aus der Fülle an Möglichkeiten
Alles das soll heute nicht Thema sein, nicht das, was im Argen liegt, das, was wir nicht haben oder wollen, sondern der ganze Reichtum, über den wir verfügen, und auf den sich unsere Visionen gründen können. Das sind zum Beispiel:
wunderschöne Seen, die zum Baden, zum Angeln oder zur Wildtier-Beobachtung einladen;
reizvolle historische Dörfer mit einer Einwohnerschaft, die lernt, diesen Reiz zu schätzen, zu erhalten und auszubauen, also eine nicht-museale, lebendige Geschichtsbezogenheit;
Wir haben unsere berühmten Obstalleen, die zum Pflücken einladen, ohne nach den Besitzverhältnissen zu fragen. Auch dies ist eine Geste mit metaphorischer Botschaft: Wir sind reich genug, um es uns leisten zu können, allen abzugeben, die Bedarf danach haben!
Und wir haben eine heterogene Bevölkerung, zusammengesetzt aus vielen verschiedenen Schichten von Einwanderungen, von den Siedlerbewegungen vergangener Jahrhunderte über die Nachkriegsflüchtlinge, die kulturellen Dissidenten der 70er und 80er Jahre bis zu den Stadtflüchtlingen und den NeuansiedlerInnen der Gegenwart. Wo diese verschiedenen Segmente nicht gleichgültig und abgegrenzt nebeneinander her leben, beeinflussen sich ihre Lebensvorstellungen – mitunter durch Nachahmung und Austausch, mitunter durch Kollision und Konflikt – es ist dies der Reichtum an anknüpfungsfähigen Erfahrungen.
4. Lebensqualität oder Lebensgefühl
Aber was sind diese Lebensvorstellungen? Wie wollen diese Menschen, wie wollen wir in zehn oder zwanzig Jahren hier leben? Auf diese Frage gibt es sicher so viele Antworten, wie es Menschen in diesem Landkreis gibt. Allerdings können sich Institutionen, deren Funktion es ist, Lebensgrundlagen sicher zu stellen, nicht damit zufrieden geben, die Frage als Spekulation zurück zu weisen. Sie brauchen ein Bild von dem, was die Menschen glücklich und zufrieden macht, was ihr Leben hier lebenswert macht, um ihrer Aufgabe gerecht werden zu können.
Der Versuch, Lebenswelten zusammen zu bringen, wie es in der Einladung formuliert ist, heißt, sich Gedanken über Lebensqualität zu machen. Aus der Sicht der Behörden gilt die Lebensqualität als gesichert, wenn etwa universelle Menschenrechte und Grundrechte eingehalten und geschützt werden, wenn weiterhin die für das tägliche Leben notwendige Versorgung sichergestellt ist. Diese behördliche Tätigkeit wird mit dem administrativen Begriff der „Daseinsvorsorge“ beschrieben, dessen Erfüllung objektivierbar und messbar ist. Ob die versorgten Menschen dann ein glückliches und sinnerfülltes Leben führen, ist deren Sache. Da kann die Behörde nichts machen.
Was ist aber, wenn die gesicherte Versorgung gar nicht der entscheidende Aspekt darin ist, ob Menschen glücklich sind, ein Ziel haben, sich wohl fühlen? Ist möglicherweise der Begriff der „Lebensqualität“ gar nicht der richtige Bezugspunkt für das, was das „gute Leben“ sein soll? Ich jedenfalls habe Zweifel.
5. Produktive Kraft: Mangel
Wenn es uns wirklich interessiert, wie sich diese Region weiterentwickeln kann, dann kann es nicht in erster Linie darum gehen, welche Bereiche eventuell noch besser mit Versorgung abgedeckt werden müssen. Ich wage sogar die Behauptung, dass umfassend versorgte Menschen eher ruhig gestellte Menschen sind. Von ihnen werden nicht die nötigen Impulse ausgehen, um sich selbst tragende Entwicklungen in Ganz zu bringen. Die Zukunft einer Gesellschaft hängt ja letztlich nicht an den richtigen Strategien der Behörden und Institutionen, sondern daran, wie weit die Menschen insgesamt ihre eigene Verantwortung erkennen und wahrnehmen.
Was soll das heißen? Will ich jetzt den Mangel und die Unterversorgung befürworten? Eine neu aufgelegte Verelendungstheorie? Verstehen Sie mich bitte nicht falsch: Hunger, Not, Angst und Hoffnungslosigkeit, alles was Menschen niederdrückt und ohnmächtig macht, muss bekämpft werden und soll keinen Platz in unserer Gesellschaft haben. Aber der Mangel, der zum Handeln anstiftet, der dazu zwingt, nach außen zu gehen, Barrieren zu überwinden, hat oft eine produktive Auswirkung.
Viele Menschen erzählen, dass Zeiten der Armut und des Mangels oft die Glücklichsten ihres Lebens waren, wenn sie nämlich wussten, was zu seiner Behebung getan werden konnte, wenn sie also ein Ziel hatten, und über die Möglichkeiten verfügten, daran zu arbeiten.
Dem Begriff der Lebensqualität oder gar des Lebensstandards möchte ich daher den Begriff des „Lebensgefühls“ entgegenstellen. Und darin spielen ganz andere Faktoren als der abgesicherte Alltag eine Rolle. Ein positives Lebensgefühl stellt sich ein, wenn ich mich selbst als handlungsfähiges Subjekt erlebe, das Ziele hat, auf die es sich freut, und die Mittel, um ihm entgegen zu arbeiten. Ein Subjekt, dessen Bemühungen von seiner Umgebung anerkannt und unterstützt werden und das das Glück hat, die Ergebnisse seiner Arbeit anschauen zu können und für gut zu befinden.
Ein positives Lebensgefühl hängt sicher auch mit der Fülle an Möglichkeiten zusammen, sich selbst zu „verwirklichen“, wobei zu viele Möglichkeiten auch lähmen können, wenn sie nicht durch klare Zielvorstellungen strukturiert werden.
Also nicht die lückenlose Daseinsvorsorge erzeugt ein positives Lebensgefühl sondern die Möglichkeit, auf Mängel und Bedürfnisse mit eigenem Tätig-werden zu reagieren. Für die Institutionen (die in der Öffentlichkeitsarbeit merkwürdigerweise als die „Akteure“ bezeichnet werden) heißt das: zum eigenverantwortlichen Handeln ermutigen, es unterstützen und flankieren und bürokratische Hindernisse aus dem Weg räumen.
6. Produktive Kraft: Konflikt
Eine ähnliche Alternative möchte ich dem behördlichen Handlungsziel des Friedens und der Sicherheit entgegen stellen und ihre Rolle für ein positives Lebensgefühl bestreiten. Wenn wir von Sicherheit sprechen, meinen wir den Schutz der Personen vor Gefährdung, Verletzung oder Diskriminierung und den Schutz des Eigentums vor fremdem Zugriff. Wenn wir von Frieden sprechen, meinen wir, dass alle sich gegenseitig tolerieren und auf aggressive Handlungen verzichten. Beides sind statische Zielvorstellungen. Es gibt darin einen idealen Endzustand, der durch vollständige Erstarrung und vollständige Abschottung gekennzeichnet ist. Die restlos kontrollierbare Sicherheit gibt es nur hinter hohen Mauern – und selbst da nicht, wie die Geschichte lehrt!
Wo Menschen zusammen leben, entstehen Spannungsfelder aus gegeneinander gerichteten Bedürfnissen. Die einen haben etwas, das sie gerade nicht brauchen, das sie aber festhalten, aus Angst, dass sie darum kämpfen müssen, wenn sie es einmal brauchen sollten. Die anderen haben Bedürfnisse und nicht die Mittel, sie zu erfüllen. Sie trauen sich nicht, die Besitzenden um diese Mittel zu bitten oder sie gar einzufordern, aus Scham oder auch aus Furcht, dann selbst den Ansprüchen anderer ausgesetzt zu sein. Dabei ist es eine Erfahrung aus der Almende, dass der geteilte Reichtum ein vervielfachter Reichtum ist.
Wo Menschen zusammen leben, entstehen Spannungsfelder aus unterschiedlichen Lebensweisen, die sich gegenseitig beeinträchtigen oder sogar bedrohen können. Den Konflikten, die sich daraus ergeben, weicht man aus, aus Angst, darin entblößt oder verletzt zu werden. Gegen die Konflikthaftigkeit des menschlichen Zusammenlebens gibt es vielfältige Strategien der Friedenssicherung, zu denen bereits die Kinder erzogen werden. Ich halte das für problematisch, weil es die produktive Kraft des Konfliktes verkennt. Nur die Unterschiede, die sichtbar werden, können das Bild der und des Einzelnen erweitern. Nur die Konflikte, die ausgesprochen und ausgetragen werden, können das Verständnis füreinander fördern und belastbar machen.
Ich behaupte, nicht der Frieden und die Sicherheit erzeugen ein positives Lebensgefühl, sondern das Bewusstsein über die Möglichkeit, sich ohne Angst in eine Auseinandersetzung zu begeben.
Daraus folgt für mich: nicht die Absicherung und die Erziehung zur unbedingten Toleranz sollte das Handeln der Institutionen bestimmen. Sie sollten stattdessen dafür sorgen, dass Konflikte schon in ihrem niedrig-schwelligen Stadium virulent werden. Sie sollten Erwachsene und Kinder ermutigen, sich immer wieder in Konflikte einzulassen; und sie sollten Hilfestellung bei der Moderation geben, damit der Streit produktiv wird und möglichst wenig Schaden anrichtet. Drillen Sie die Kinder in den Schulen und den Freizeiteinrichtungen nicht auf Toleranz sondern auf das mutige Aussprechen dessen, was sie bewegt, damit sie im offenen Konflikt lernen, ihr Gegenüber zu sehen und zu respektieren. Setzen Sie die jungen Leute nicht schon von früh auf dem Wahnsinn der Konkurrenz aus, unterlassen Sie die unsinnigen Wettbewerbe, in denen die Kinder lernen, andere, die ihre Interessen gefährden könnten, über Bande aus dem Feld zu schlagen, ohne sich mit deren Niederlage auseinander setzen zu müssen.
7. Der Reichtum des Unfertigen
Der sechzehnjährige Sohn meiner Nachbarn ist seit seiner Geburt mit seinen Eltern am Wochenende in Reichenow. Er hat sich jetzt entschlossen, hier einen Beruf zu erlernen, nämlich den eines Schäfers, und hier zu leben. Er ist also einer der Immigranten in Märkisch-Oderland, einer, der ein Gegenbeispiel für die gefürchtete Landflucht ist. Dieser Junge sagt zu der Frage, warum er gerne auf dem Land leben und arbeiten will: Hier gibt es immer was zu tun!
Die vielen, vielen unfertigen Dinge, die einen ländlichen Haushalt ausmachen und ihn umgeben, die jemand anderes vielleicht zu der resignierenden Feststellung „Man wird nie fertig“ veranlasst hätte, sieht er als eine Fülle an Möglichkeiten. Man kann Holz hacken, man kann den Gartenzaun reparieren, man kann die Brennnesseln im Graben absensen, man kann am Moped schrauben, man kann sich einen alten Bauwagen in eine Gartenecke ziehen, dann hat man über Jahre zu tun.
Also im Vordergrund steht nicht: man muss es tun, damit es erledigt ist; sondern man kann es tun, wenn man Lust und Zeit dazu hat, hat eine schöne Beschäftigung und ein Ergebnis, über das man sich freuen kann.
Übertragen wir das auf die Situation in manchen Dörfern. Der zugewachsene Dorfteich, die halb eingefallenen Schuppen, die leer stehenden LPG-Gebäude sind keine Schandflecke, die möglichst schnell weg müssen. Denn, was ist damit erreicht, wenn sie weg sind? Sondern sie sind der Stoff, aus dem zukünftige Projekte gemacht werden können. Man kann sie ruhig dafür aufheben. Schlimm ist der Zustand von Dörfern, in denen alles fertig ist. Dort beginnt man, die Grashalme zwischen den Fugen der Gehwegplatten herauszukratzen.
Ich behaupte: Das Unfertige ist ein kostbares Gut, es sollte nicht leichtfertig verschleudert oder gar beseitigt werden. Am schönsten finde ich persönlich, wenn das alte Unfertige in einem lebendigen Prozess in ein neues Unfertiges übergeht. Denn dass Lösungen vorläufige sind und erreichte Zustände temporär sind, muss nicht um jeden Preis vermieden werden. Nach uns kommen auch noch welche, und für sie sind unsere Hinterlassenschaften die Bausteine, aus denen sie ihre Welt neu zusammensetzen. Das gilt übrigens auch für Projekte, die für die Ewigkeit bestimmt waren, ob es nun ein Schloss oder ein Republikpalast ist.
Stellen Sie sich vor, Sie verfolgen eine eigene Initiative, sagen wir, mit den Nachbarn zusammen eine kleine provisorische Brücke über einen Graben zu bauen, damit Sie sich gegenseitig leichter erreichen können, oder um z.B. einen direkten Zugang zum Oderdeich zu haben. Sie gehen zu den Behörden, die Sie da für zuständig halten. Und hier wird Ihnen nicht herunter gebetet, warum das alles nicht geht: Zuständigkeitsfragen, Eigentumsfragen, Versicherungsfragen. Sondern die Reaktion ist: schöne Idee, schöne Initiative, was können wir tun, um das möglich zu machen, wie können wir helfen, eventuelle Hindernisse aus dem Weg zu räumen? – Was meinen Sie, wie solche Erfahrungen das Lebensgefühl beflügeln?
8. Arbeitsplätze sichern oder einfach tätig werden.
Und noch etwas. Die Ansiedlung oder der Erhaltung von so genannten Arbeitsplätzen wird überall mit Riesenbeträgen gefördert. Trotzdem verschwinden diese Arbeitsplätze nach einer erzwungenen Anstandsfrist meist wieder, weil die Gesetze des Kapitalismus Naturgewalt haben und sich nicht mit finanziellen Extragaben umbiegen lassen. Ich will mich auf diesen Unsinn hier nicht weiter einlassen. Was ich hier thematisieren will, ist die verkümmerte Wahrnehmung: Arbeit ist Lohnarbeit, also eine Arbeit, für die Geld bezahlt wird, und wenn es nur der eine Euro ist, mit dem eine Tätigkeit zu „richtiger“ Arbeit geadelt wird. Alles andere gilt als Freizeitbeschäftigung oder Ehrenamt.
Freizeitbeschäftigung, Beschäftigungstherapie, Tätigkeiten, die nur die Funktion haben, mir selbst das Gefühl von sinnvoller Tätigkeit zu geben, die helfen sollen, die Zeit zu füllen, deren Nützlichkeit dabei diskret übergangen wird. Eine gesellschaftliche Anerkennung ist dafür nicht zu erwarten – oft im Gegenteil.
Ein Ehrenamt dagegen erfährt vor allem gesellschaftliche Anerkennung: eine von allen als nützlich angesehene Tätigkeit wird unter großmütigem Verzicht auf Bezahlung übernommen. Es ist dies eine zutiefst bürgerliche Geste: Man zeigt damit, dass man es sich leisten kann. Also zeigt man eigentlich seine Besitzverhältnisse vor. Und dies als „ehrenhaft“ zu bezeichnen, entspricht der traurigen Wirklichkeit bürgerlicher Moralvorstellungen.
Es gibt noch andere Tätigkeiten, die nicht bezahlt werden und gesellschaftlich dennoch als „Arbeit“ durchgehen, denken Sie an das Stichwort „Generation Praktikum“. Wer ohne Bezahlung arbeitet, in der Hoffnung, dadurch später mal an dieser Stelle einen (Lohn)Arbeitsplatz zu schaffen, geht im Grunde einer investiven Beschäftigung nach, er akzeptiert als Bezahlung einen Wechsel auf die Zukunft; man könnte es auch als ein Lotterielos bezeichnen!
Aber wie ist die Bezeichnung für eine aus eigenem Antrieb unternommene, weil einfach für notwendig gehaltene Arbeit, die in erster Linie weder nach der Bezahlung noch nach der Anerkennung fragt? „Ich tue, was getan werden muss!“ In Filmen imponiert uns diese Haltung, im Alltag übersehen wir sie.
Eine Arbeit, die ihren Sinn in sich selbst trägt, und eine Arbeit, die ich tun muss, weil seine Bezahlung für meinen Lebensunterhalt unverzichtbar ist, sind im Allgemeinen zwei grundverschiedene Dinge.
Was wäre, wenn Menschen, denen die Institutionen mit so genannten „Maßnahmen“ zu sinnvollen Beschäftigungen verhelfen wollen, sich ihre Arbeit selbst suchen könnten? Also wenn die MAE-Maßnahmen zum Beispiel nicht so ablaufen würden: Ab in den Wald, das Unterholz schneiden, oder die Kantsteine fegen! Sondern: An unserem Strand fehlt eine Feuerstelle, ich könnte sie bauen, wenn ich Material kriege, in der Zeit von der Pflicht zur Arbeitssuche befreit werde und vielleicht noch den einen Euro obendrauf kriege.
Auch das, behaupte ich, würde Selbstbewusstsein und Motivation erzeugen – ein gehobenes Lebensgefühl, aus dem eine Zukunft mit Visionen gemacht ist.
9. Ein Beispiel
Vor zwei Jahren machte ein 12-minütiger Film von Wim Wenders das kleine süditalienische Dorf Riace an der Adriaküste weltberühmt. Er zeigt den erfindungsreichen, aufmüpfigen Bürgermeister auf der Suche nach einer Zukunft für sein fast ausgestorbenes Dorf und einen Jungen auf der Suche nach neuen Spielgefährten. Der Film spielt eine Situation nach, die vor ein paar Jahren tatsächlich dazu geführt hat, dass Riace zu einem weltweit beachteten Modellprojekt für die Integration von Flüchtlingen geworden ist. Durch die Hartnäckigkeit des Bürgermeisters und die Unterstützung des Dorfes ist es gelungen, gegen den Widerstand der Behörden Hunderte von Flüchtlingen aus dem arabischen Raum hier anzusiedeln.
Den Flüchtlingen wurde kostenloser Wohnraum zur Verfügung gestellt, mit den beiden einzigen Bedingungen, dass sie mitarbeiten und dass sie die Landessprache lernen.
10. Tut uns den Gefallen – Kommt rein
Das Beispiel macht Schule. Das Bezirksparlament von Hamburg-Altona zum Beispiel hat in diesem Frühling den Hamburger Senat ausdrücklich aufgefordert, nordafrikanische Flüchtlinge in der Hansestadt aufzunehmen, und widerspricht der Innenministerkonferenz, die behauptet, das „Boot sei voll“.
Das Boot ist noch lange nicht voll, am allerwenigsten hier.
Warum können wir nicht den Landkreis öffnen und den Menschen, die ein neues Zuhause suchen, sagen: Kommt rein, hier gibt es Land, hier gibt es Wohnraum, hier gibt es genug zu tun!? Es gibt Platz in Neulietzegöricke, es gibt Platz in Golzow, es gibt Platz in Reichenberg oder Ernsthof.
Und das sollten wir gar nicht mal aus Barmherzigkeit tun, sondern weil es für das Land, in dem wir leben, und damit für uns, eine Entwicklungschance darstellt.
Denn Mangel erzeugt Erfindungsreichtum. Der offene Konflikt erzeugt gegenseitiges Kenntlich werden. Die hohlen Gehäuse der Vergangenheit stehen für Lebensexperimente zur Verfügung. Das selbst bestimmte Tätig-Werden erzeugt Anerkennung und Kompetenz.
Warum soll das so unmöglich sein?
Der Alte Fritz hat es vor 250 Jahren vorgemacht. Er hat sehr klug gesehen, dass niemand so ein starkes Motiv hat, Pionierzeiten durchzuhalten, wie Menschen, die ihrer bisherigen Lebenssituation zu entkommen versuchen.
Ja, werden Sie sagen: der weise König! Wenn der Befehl von oben kommt! So sagte mir die Vertreterin einer der so genannten Trägerorganisationen für die Betreuung von Flüchtlingen: „Das Ausländergesetz muss erst geändert werden!“ Nein – anders herum wird ein Schuh daraus! Genau das können wir vom Beispiel Riace lernen. Nachdem die Hartnäckigkeit der Gemeinde so sichtbare Früchte trug, die auch die Behörden nicht mehr negieren konnten, zog der Gesetzgeber nach: Vor zwei Jahren erließ die kalabrische Regierung ein Gesetz, das lokalen, selbst verwalteten Initiativen die unbürokratische Aufnahme und Integration von Flüchtlingen ermöglicht. Der Veränderungsdruck kommt immer erst von unten!
Die Rolle von Institutionen bei einem solchen Prozess wird sich sicher weitgehend darauf beschränken müssen, anzuregen und zu flankieren. Die Initiative muss in erster Linie von denen ausgehen, die ich für die wahren „lokalen Akteure“ halte: Die eher unorganisierten Menschen in den Gemeinden, die Nachbarn, die Kollegen und Kolleginnen, also die, die sich spontan entschließen, Partei zu ergreifen.
11. Paten und Patinnen gesucht
Sie werden jetzt einwenden: Wer will das verantworten, Menschen ohne Rückendeckung in eine ihnen fremde, teilweise feindselige Umgebung zu holen?
Die Münchner „Save me“-Kampagne hat gezeigt, wie es geht. Sie hat anlässlich des Stadtjubiläums 2008 die zusätzliche Aufnahme von Kriegs-Flüchtlingen aus dem Irak durchgesetzt und für jede und jeden von ihnen einen Paten oder eine Patin gefunden, die ihnen zur Seite steht und ihnen die Integration erleichtert. Die meisten der 137 Menschen haben inzwischen ihren Platz in der Münchner Gesellschaft gefunden, einschließlich einer eigenen Wohnung.
Könnte das nicht eine Anregung für unseren eigenen Landkreis sein? Warum können die Institutionen, die sich die Integration auf die Fahnen geschrieben haben, nicht die Bildung solcher Patenschaften unterstützen? Ich habe gehört, dass es auch anderswo damit positive Erfahrungen gibt. In Garzau sitzen 120 Menschen – Asylsuchende oder Flüchtlinge mit Duldung – ohne jeden rechtlichen Anspruch auf Integration, z.T. seit Jahren in einem Plattenbau in Wald fest. Es spricht doch nichts dagegen, eine Familie aus Strausberg, Seelow oder auch Rehfelde zu suchen, die die Patenschaft z.B. für eine Familie aus Afghanistan übernimmt und ab und zu etwas mit ihnen zusammen unternimmt oder sie bei einigen ihrer Probleme unterstützt.
Die Menschen aus anderen Ländern müssen sichtbar werden, damit die eingesessenen Bürger und Bürgerinnen des Landkreises sie als Teil des Alltags akzeptieren lernen.
Bisher haben Flüchtlinge nur die einzige Chance, aus ihrem prekären Status herauszukommen: eine Eheschließung mit einem Menschen mit deutschem Pass. Diese verzweifelte Notwendigkeit, einen Mann oder eine Frau zu suchen ist doch deprimierend und für die Menschen erniedrigend. Warum sollte nicht die Bereitschaft von hier ansässigen Menschen, Verantwortung zu übernehmen, also z.B. so etwas wie eine Bürgschaft einzugehen, ebenfalls ein Bleiberecht für Flüchtlinge begründen?
In Riace wurde an die Neuansiedler und Siedlerinnen die Bedingung gestellt, dass sie die Landessprache lernen und sich am Aufbau des Dorfes beteiligen. An beiden Voraussetzungen fehlt es den Menschen nicht, die in Garzau in einer Art offenem Abschiebehaft-Vollzug leben. Ich weiß aus Besuchen dort, dass sie gebildet und motiviert sind, für sich selbst zu sorgen. Lehrer und Lehrerinnen, Kaufleute, Medizinerinnen, Facharbeiter und Handwerker, Gesundheitsarbeiterinnen und Ingenieure. Sie wollen deutsch lernen, aber es wird behördlich verhindert oder jedenfalls nicht gefördert; sie wollen arbeiten, aber sie bekommen keine Arbeitserlaubnis. Sie würden gerne auch freiwillige Arbeiten für gemeinnützige Zwecke machen, bei denen sie ihre Fähigkeiten und ihre Bereitschaft zur Integration zeigen könnten. Aber man lädt sie nicht dazu ein. Auf diese Idee der Kontaktaufnahme scheint aus den umliegenden Gemeinden niemand zu kommen. Wahrscheinlich steht solchen Initiativen das allgemein übliche Bedenken-tragen über die Folgen im Weg.
12. Neues Leben in alte Häuser
Warum können leer stehende Gebäude in den Gemeinden nicht von Menschen, die hier leben möchten, bewohnbar gemacht und genutzt werden? Ist es nicht egal, woher sie kommen, Hauptsache, sie sind bereit, sich mit den Menschen einzulassen, die schon hier leben? Es gibt genug leer stehende Wohnungen, die den Gemeinden selbst gehören, überall massenhaft vorhandene ehemalige LPG-Gebäude, verlassene Siedlungshäuser.
Hier müsste sich zeigen, dass eine wichtige Tugend einer human gesinnten Behörde gelegentlich die Unterlassung ist. Nicht jeder Gesetzesbuchstabe muss wortgetreu umgesetzt werden, nicht alles muss lückenlos überwacht und erfasst werden, es gibt die Möglichkeit, abzuwarten oder Güterabwägungen vorzunehmen.
Nein, ich fordere nicht zu wilder Landnahme und Besetzung auf; niemand soll überrannt oder geschädigt werden. Aber wenn ein leer stehendes Haus, das verfällt, weil die Erben nicht aufzufinden sind, temporär genutzt wird, was spricht dagegen? Sollten die Institutionen nicht dafür sorgen, z.B. auf dem Wege der Verordnung, dass Gebrauchswerte wie Wohnraum auch gebraucht werden können?
Was wäre, wenn einem illegalisierten Menschen, der bereit ist, sich seinen Lebensort selbst zu schaffen, zumindest das Recht zugestanden würde, ein Mitbürger und eine Mitbürgerin zu sein?
13. Grundrecht auf Selbstversorgung
Sie werden weiter fragen: Wovon sollen die Menschen leben? Hier gibt es kaum Arbeitsplätze. Mal abgesehen davon, dass jede tief greifende Veränderung Dynamiken auslöst, in deren Gefolge dann meist auch neue Lohn-Arbeitsplätze entstehen, wie u. a. das Beispiel von Riace zeigt – also mal abgesehen davon, ist die Subsistenz zumindest auf dem Land und in unseren Breitengraden, noch immer – oder vielleicht auch wieder – eine Alternative. Wer sich selbst versorgen kann, hat weniger Einkommenssorgen. Aber dazu braucht man Land. Beim großen Ausverkauf der landwirtschaftlichen Nutzflächen hier im Osten bleiben oft nur die Gehöfte stehen, ohne einen einzigen Morgen an Land für neue BewohnerInnen.
Menschen, die sich hier ansiedeln wollen, brauchen Land, damit sie weniger Geld brauchen, also weniger von Arbeitsplätzen oder von staatlicher Alimentierung abhängen. Die Gemeinden haben oft noch eigenes Land, das sie an die Besitzer der großen Schläge verpachtet haben. Das Land könnte auf dem Weg des Gebietsaustausches für Neuansiedler frei gemacht werden. Die BVVG vergibt die riesige Menge des von ihr noch verwalteten Bodens nur in großen Schlägen – diese Politik müsste geändert werden. Und die großen Agrar-Unternehmen mit mehr als 1000 Hektar eigener Fläche müssten verpflichtet werden, bei Bedarf einen kleinen Prozentsatz an Menschen abzugeben, die ihn zu ihrer eigenen Versorgung brauchen.
Natürlich müsste dazu erst die gesetzliche Grundlage geschaffen werden. Dazu bedarf es der Bewusstmachung und dann der rechtlichen Verankerung eines in meinen Augen fundamentalen Grundrechtes, des Rechtes auf Selbstversorgung. Damit meine ich, neben dem Recht auf Wohnung, Bildung, Gesundheit, Arbeit mit angemessener Entlohnung usw. ist jedem Menschen, der davon Gebrauch machen will, ein Recht auf Selbstversorgung zuzugestehen. Die Erde ist fruchtbar, und sie ist für alle da; sie ist denen, die sie bewirtschaften, nur überlassen. Niemandem darf der Kauf oder die Pacht eines Stücks Erde verweigert werden, das groß genug ist, um sie oder ihn zu ernähren. Weil es um die unmittelbare Existenzsicherung geht, halte ich dies für ein universelles Menschenrecht.
Im Konkreten würde das Zugeständnis eines solchen Grundrechtes natürlich viele Fragen und Probleme aufwerfen. Sie zu erörtern, würde den Rahmen dieses Vortrags sprengen. Ich sage nur, die Bodenvergabe gehört in die Hände derer, die die Verhältnisse kennen: in die Hände der Gemeinden.
14. Der Schritt in Offene
Ja, wir bewegen uns in der Utopie, und das sind meine Visionen davon. Nein, es ist mehr: es ist mein Vorschlag, meine Aufforderung an Sie, für das Zusammenbringen von Lebenswelten Schritte in Offene zu wagen, und sich den dadurch angestoßenen Prozessen auszusetzen. Wir können dabei nur gewinnen.
Fotos:
Kenneth Anders und Lars Fischer und Andreas Röhring
Kontakt:
Imma Luise Harms
Neue Dorfstr. 7
15345 Reichenow
imma_harms@gmx.de
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