E.O. Denk: Sagen aus dem Königsberger Kreis

Von Dr. E. Otto Denk, Bad Freienwalde

Der Tod der Nixe

„Der Tod der Nixe“
Gezeichnet von Zbigniew Olchowik, Gorzow (Landsberg)
Aus: Königsberger Kreiskalender 2006, Das Heimatbuch für
den Kreis Königsberg/Neumark, S. 51f

Der Lehrer Ernst Jonas aus Güstbiese in der Neumark übernahm von seinem Vorgänger, Kantor Wilhelm Schröder, nachdem dieser in den Ruhestand trat, dessen Bibliothek. Es waren nicht sehr viele Bände, die in dem Regal standen, sie waren auch nicht besonders wertvoll zu nennen. Ein Buch jedoch bildete eine Ausnahme, da es dem Betrachter durch seinen ungewöhnlichen ledernen Einband sofort ins Auge fiel.
Es war eine Chronik, wie man sie vor Hunderten von Jahren in einem kleinen Dorf am Ufer der Oder führte. Neben den Tabellen und biografischen Angaben enthielt es auch etliche Sagen zum Dorf und seiner neumärkischen Umgebung. Dem Sohn Bertold las der Vater oft aus besagtem Folianten vor und fand in seinem Sprössling stets einen begeisterten Zuhörer. Als der Vater starb, kam die Bibliothek auf den Sohn. Er sollte sich jedoch der Bücher nicht lange erfreuen dürfen. Eines Tages erreichte der große Krieg auch den verträumten Ort und vernichtete ihn fast vollständig. Das Schulhaus verbrannte, ebenso der Besitz der Familie Jonas und auch das wertvolle Buch. Lediglich die Erinnerungen konnten gerettet werden über die Zeit der Vertreibung aus der Heimat, über den Neuanfang unter fremden Menschen bis in die heutige Zeit.
Eines Tages, ich erinnere mich noch seines schlechten Wetters, saß ich mit Bertold Jonas gemütlich bei einem Glas Bier im Hotel Eduardshof in Bad Freienwalde zusammen, und er erzählte mir eine seiner Lieblingssagen aus dem Buch seiner Vorfahren.

So um 1330, begann er, belehnte Markgral Ludwig die Herren von Güstebiese mit einem kleinen bewohnten Flecken an der Oder. Es waren wunderliche Zeiten in der MARCHIA NOVA (der Neumark) damals. Wer es klug und rücksichtslos genug anstellte, wer wenig Skrupel hatte und ein gutes Schwert führte, konnte zu erheblichem Reichtum gelangen. Die Herren von Güstebiese passten anscheinend gut in diese Gesellschaft und bald hatten ihnen ihre Leibeigenen eine respektable Wohnanlage auf einer Anhöhe in der Nähe des Dorfes errichtet, die auf alten Plänen als Schlossberg benannt wird. Da ihnen der Reichtum nicht genügte, kamen sie auf die Idee, mittels Eisenketten, die sie durch die Oder spannen ließen, die Schiffe der Kaufleute, die aus dem wohlhabenden Frankfurt stromabwärts nach Stettin unterwegs waren, aufzuhalten, um Wegezoll zu erpressen.

Diese Ketten wurden in einer dunklen und stürmischen Herbstnacht der Lieblingsnixe des Oderflussgottes, der schönen Odrasine, zum Verhängnis. Sie verfing sich in ihnen und kam auf traurige Weise zu Tode. Die Nachricht darüber verbreitete sich im Wasserreich in großer Eile, stromauf bis an die Quelle des Flusses in den fernen Sudeten und stromab bis an den Strand der Ostsee.
Der Odergott VIADRUS verfiel in große Trauer, und mit ihm trauerten alle Bewohner des riesigen Wasserreiches mit seinen zahlreichen Nebenflüssen. Die Oderfürstin ließ in ihrem Schloss am Grunde des Flusses nahe der reichen Stadt Breslau die Lichter löschen und die Kristallspiegel verhängen. Odrabil, die Odermuhme, trauerte genauso wie die Quellnymphen der Olsa, der Ohle, des Bober, der Warthe und der vielen anderen Zuflüsse.

Im fernen Riesengebirge, dem Reich des Rübezahl, begannen Erdmännchen und Gnome mit dem Bau eines prachtvollen Sarges, gänzlich aus Bergkristall, verziert mit den schönsten Edelsteinen, die in den Bergen Böhmens und Schlesiens zu finden waren.
Die verunglückte Odernixe wurde bald darauf in diesem wertvollen Sarg auf dem Grunde der Oder irgendwo bei Freienwalde beigesetzt. Damals floss der Hauptfluss noch nahe der Stadt vorbei, bevor er 1753 ab Güstebiese ein neues Bett erhielt. Vor diesem Ereignis zählte das Oderbruch in seinem urspünglichen und wildromantischen Zustand zu den Lieblingsplätzen des Flussgottes. Nur die Landschaft zwischen der Oderquelle und dem Städtchen Odrau, sowie die Auenwälder in der Nähe des Klosters Leubus konnten es mit ihm aufnehmen.

Am Tage der Beisetzung auf dem Flussgrund waren alle Wasserwesen im Oderbruch versammelt, um Odrasine ein letztes Lebewohl zu sagen.
Obgleich es zahllose und wunderschöne Nixen in der Oder, und besonders im Oderbruch gab, so die Sage, konnte VIADRUS seine liebste Freundin niemals vergessen.
Die Chronik erwähnt, dass das Geschlecht derer von Güstbiese bald nach diesem Vorfall erlosch. Nur der Name lebte in den Ortsbezeichnüngen Güstebiese (heute Gozdowice) und Güstebieser Loose weiter. Ihr Schloss ist längst zerfallen und niemand vermag zu sagen, wo ihre Gräber sind.
Die Nixe jedoch lebt im Hauszeichen des Freienwalder Oderlandmuseum weiter, ihr Grab im Oderbruch jedoch bleibt verschollen für alle Zeiten.
Und wenn VIADRUS mit seinem Gefolge während der Herbststürme durch die Tiefen der Oder zieht, schlagen bei Güstebiese die Wellen des Flusses hoch und wild. Die Schiffer steuern ihre Boote dann besonders vorsichtig und die Fischer sind gut beraten, wenn sie ihre Netze rechtzeitig einholen.

Mit diesen Worten beendete der Erzähler seine Ausführungen. Als ich ihn fragte, weshalb er mir gerade diese Sage vom Tod in der Unterwasserwelt erzählte, schwieg er, und sein Blick verharrte eine Zeitlang auf einem Punkt, wie es bei Menschen üblich ist, deren Gedanken zurückgehen in Zeiten, die lange vorüber, aber unvergessen sind.
Später erhoben wir unsere Gläser zu einem „VIVAT VIADRUS“ auf den Odergott und tranken auf all jene, die sich an den mährischen, schlesischen, brandenburgischen und pommerschen Ufern der guten alten Oder ihres Lebens freuen.

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