B. Sauerwein: Die Natur der Eroberung. Rezenzion von David Blackbourn

Die Eroberung der Natur. Eine Geschichte der deutschen Landschaft.

592 Seiten. Deutsche Verlagsanstalt. München. 2006.

Ein jeder sucht sich selbst was aus.
Wer vieles bringt, wird machen etwas bringen;
Und jeder geht zufrieden aus dem Haus;
Gebt Ihr ein Stück, so gebt es gleich in Stücken!
Solch ein Ragout, es muß Euch glücken;
Leicht ist es vorgelegt, so leicht als ausgedacht.

(Goethe, Faust I, Vorspiel auf dem Theater)

Das Positive vorweg. Die eine Geschichte der deutschen Landschaft, die Blackbourn beschreibt, ist angenehm und nett zu lesen. Die Erzählung, „wie die Deutschen ihre Landschaft in den letzten 250 Jahren umgestaltet haben“ (: 111), beginnt mit der Trockenlegung des Oderbruches im 18. Jhd. und endet mit ‚ökologisch‘ ’nachhaltigem Hochwasserschutz‘ (: 439), der zur Zeit, nach dem letzten Oderhochwasser 1997, propagiert wird. Dazwischen scheint alles, was irgendwie mit Wasserbau zu tun hatte und die Landschaft prägte2, genannt: die Rektifikation des Rheines, Küstenschutz und Militärhafenbau am Jadebusen, Moorkolonisation in Nordwestdeutschland, Dampfschiffahrt, industrielle Gewässerverschmutzung, Talsperrenbau, Trinkwassergewinnung mit Grundwasserabsenkung, Wasserkraftnutzung, Hochwasserschutz, völkermordende Raumplanung ebenso wie Partisanen schützende Sümpfe während des Ostfeldzuges und schließlich Natur- und Umweltschutz in West- wie weiterhin Umweltverschmutzung in Ostdeutschland.

Und dies alles ist bis aufs äußerste detailliert. Nichts aber auch gar nichts scheint ausgelassen. Umfangreich erscheinen die Projekte in allen Widersprüchen, Haupt- und Nebensachen, mit beabsichtigten Folgen wie ungeplanten Rückschlagen, inklusive der sozialen wie ökologischen Wirkungen, im Guten wie im Bösen, immer unter Beachtung zeitgenössischer und rückblickender Kritik beschrieben. Zudem ist der gesellschaftlich-kulturelle Kontext mit Zitation von vielerlei Schriftstellern, Philosophen, Soziologen und Naturwissenschaftlern wie von den jeweiligen Herrscher und Politiker hergestellt.

So beginnt beispielsweise die Erzählung der Trockenlegung des Oderbruches mit den Märchen der Gebrüder Grimm, schließt die schwere Kindheit Friedrichs des Großen ebenso wie die zeitgleich stattgefundene Weltreise Georg Forsters ein, führt die Biographien und Taten ebenso wie deren Zwänge und Nöte der bauleitenden ‚Ingenieure‘ aus, schildert das Elend der ansässigen Bevölkerung, denen mit dem Wasser die Fischgründe und damit die Lebensgrundlage genommen wurde (bevor den Enkeln ein besseres Leben als Landwirte gegeben wart) ebenso wie die Mühen der Neusiedler, die nach entbehrungsreicher Anreise in den Jahrzehnten der Urbarmachung hungerten und schließt kulturell-literarisch ab mit Romantikern, die entgegen den Erfolgen der Trockenlegung allgemein die Schönheit der Natur priesen bei besonderer Erwähnung des durch Mark Brandenburg wandernden Theodor Fontane, der die Trockenlegung als „Vernichtungskrieg“ (: 88) bezeichnete.

Hierin besteht das Angenehme des Buches. Es ist eine Reihung von (meist) netten Anekdoten. Jeder findet etwas: Der volkskundlich Interessierte die schaurige Erzählung von Iffe Diercks, der sich 1717 vor einer Sturmflut im Jadebusen mit seiner Frau auf einen Baum retten konnten, jedoch, als diese dort verstarb, die Leiche mit dem von ihrem Kopfe gelösten Haar auf dem Baum befestigte, um ihr nach der Flut ein christliches Begräbnis zu ermöglichen; der Sozialhistoriker die Erzählung der Geschichte des Oder-Neusiedlers Paulsen, der bereits auf der Anreise zum Oderbruch überfallen und beraubt wurde, dort durch Krankheiten sein Vieh und durch Mäuse seine Ernte verlor und schließlich, nachdem sein Haus bei einem Hochwasser zerstört wurde, in seine Heimat zurück kehrte; (dem Liebhaber von Abenteuerromanen wird die vom amerikanischen Autor immer wieder hergestellte Analogie zu den leidvollen Trecks in den amerikanischen Westen begeistern) der heimatschützlerische Naturschützer findet mit der Schilderung der frühen Mühen zur landschaftlichen Einbindung von Talsperren seine Arbeit bestätigt; während der naturschützlerische Ökologe nach einer reicht allgemeinen Schilderung des Artenrückganges durch die Rektifikation des Rheines Trost durch das gleichzeitige Entstehen artenreicher Biotope (Altarme) findet; der kameralistische Ökonom mag den Verlust der Staatseinnahmen bedauern, nachdem die Goldwäscherei infolge der Rheinrektifikation zum erliegen kam; der Bildungsbürger ist am einfachen Fischmahl Goethes erbaut, daß dieser vor der Rektifikation in einer ärmlichen Hütte aus Holz und Schilf genoß (nicht ohne vom Verfasser auf die ohnehin implizite Analogie zu Philemon und Baucius durch Nennung der Namen hingewiesen zu werden) und letztlich kann der Landschaftsplaner am erzählten Lebenslauf von Brenckenhoff, der beauftragt die Sümpfe der Neumark und Pommerns trockenzulegen, privates Geld zuschoß und Pleite ging, eine Analogie zum Ruin Pückler Muskaus herstellen.

Allesamt nette Geschichten, die großteils Lokalhistorien entnommen sind. In der Zusammenstellung zu einer Landschaftsgeschichte erhalten sie mit Anführungen von Schriftstellern, Philosophen und Naturwissenschaftlern einen bildungsbürgerlich-kulturelle Rahmen. In Deutschland war, nach Blackbourn, „die «Eroberung der Natur» allzusehr mit der Idee einer Eroberung von anderen verbunden“ (: 440). Dieses ‚andere‘ ist jedoch ebenso anekdotisch geschildert wie die Projekte selbst. Der sozio-ökonomische Kontext, in dem die Projekte realisiert wurden, wie die Ideologie, die ihnen zugrunde lag, ist somit allenfalls implizit zu gegen.

Auch wenn die einzelnen Geschichtchen durchaus interessant sind, besteht in ihnen auch das Ärgerliche des Buches. Die Vollständigkeit und in jeder Hinsicht abgewogen dargestellte Anekdotensammlung täuscht in der chronologischen Reihung eine geschichtliche Notwendigkeit vor, die so nicht gegeben ist und die Projekte einer kritischen Betrachtung enthebt. In der chronologischen, scheinbar kritischen Reihung gehen Unterschiede und Bedeutungen verloren. In der hergestellten ‚Logik der Chronologie‘ ist geflissentlich über die Beweggründe, Absichten, Kontexte hinweggesehen. So steht das Leid der von Sturmfluten betroffenen Küstenbewohner gleichermaßen neben dem Leid der aus dem Oderbruch oder aus den Rheinniederungen vertriebenen Fischer. Die Folgen von Naturgewalten erscheinen ebenso unabwendbar schicksalhaft, wie die Folgen der ausgeführten Entwürfe zur ‚Eroberung der Natur‘. Dieser Art ist nichts aus der Geschichte zu lernen, außer daß sie eben stattfand und zwar chronologisch. Wie die Landschaft, deren Veränderung durch Nutzung selbstverständlich erwähnt ist, nicht nur im (deutschen) Titel zur Natur deklariert ist, wird implizit die ‚Eroberung der Natur‘, die Durchsetzung der Projekte als Natur, als eine vermeintlich natürliche, d.h. notwendig gegebene Entwicklung erzählt.

Letztlich, so das Resümee, wird alles Gut. So ist, wie gütlich ausgeblickt, für den beabsichtigten ‚ökologisch nachhaltigen‘ Hochwasserschutz an der Oder geplant oberhalb des Oderbruchs grenzüberschreitenden und im europäischen Kontext Dörfer zu räumen, um Polder anzulegen. Zwar werden

„… Menschen, die dort leben, … den Verlust spüren. Ihre Unsicherheit wird ein
Ende haben, aber nur um den Preis einer Umsiedlung. Es wäre sehr wahrscheinlich
kein Trost für sie, wenn man ihnen sagte, auch wenn es wahr ist, dass die heute
verfolgte Strategie nicht nur umweltfreundlicher ist, sondern auch ein höheres
Maß an wirklicher Sicherheit für die meisten Menschen verspricht, die an der Oder
leben. Und es würde sie zweifellos ebenfalls nicht trösten, obwohl auch dies der
Wahrheit entspräche, dass diese Politik nur durch ein Abkommen zwischen
Deutschland, Polen und Tschechien unter der Schirmherrschaft der EU gelingen
kann. Diese beiden Wahrheiten sollten für uns Übrige jedoch ein Grund zur Freude
sein, … .“
(: 439-440).

In der anekdotischen Versammlung der Eroberungsgeschichten hat Blackbourn völlig übersehen oder bewußt ignoriert, daß genau dies in allen von im erwähnten Projekten gegeben war. Was Blackbourn als ‚Grund zur Freude‘ feiert, die ‚Schirmherrschaft der EU‘, war für alle Großprojekte grundlegend: Eine starke zentrale Staats- resp. Territorialgewalt zur Durchsetzung der Großprojekte gegen lokalen Widerstand. So wurde, wie auch von Blackbourn anekdotisch berichtet, schon die Trockenlegung des Oderbruches durch das Preußische Reich gegen den lokalen Adel und die Rektifikation des Rheines bereits in internationaler Zusammenarbeit durchgesetzt. Vor allem sind die Großprojekte durch Vertreibung und durch leidvollen Verlust von Heimat, Besitz, Arbeits- und Lebensgrundlagen der lokalen Bevölkerung einerseits und durch die Verheißung eines ‚besseren‘ (jetzt ’sicheren‘) Lebens für die ‚Übrigen‘ andererseits gekennzeichnet. Aufmerksam, von den Anekdötchen und Geschichtchen unabgelenkt gegen den Strich gelesen, wird durch die Erzählung auch klar, daß entgegen dem immer eintreffenden Leid die Verheißungen nie eintrafen, jedenfalls nicht in der geplanten oder beabsichtigen Weise. An der Oder wird dies in einigen Jahren und dann leider leidvoll mit dem nächsten Hochwasser eintreffen und ärgerlicherweise von Planern wie Politikern in dem Jargon den Blackbourn anschlägt bedauert. Dies wird weder für die Zwangsumgesiedelten noch für die dennoch Überschwemmten tröstlich sein, obwohl oder gerade weil dies ganz besonders der Wahrheit entspräche. Und dies sollte auch für’uns Übrige‘ kein Grund zur Freude sein.

Bernd Sauerwein

1 Zitate nach Blackbourn 2006, wie rezensiert, unter Angabe der Seitenzahlen.
2 Der Originaltitel entspricht dem auf Wasserbauprojekt beschränkten Inhalt besser: The Conquest of Nature. Water, Landscape and the Making of Modern Germany.

Sauerwein, Bernd. 2008: Die Natur der Eroberung. Rezenzion von David Blackbourn 2006: Die Eroberung der Natur. Eine Geschichte der Deutschen Landschaft. in Notizbuch 73 der Kasseler Schule . Seite : 190-192. Selbstverlag der AG Freiraum und Vegetation Kassel.