Erdgeschichte im Oderbruch

Die Gegenwart der Eiszeit

Von Nicolaus Widera

Claus Dalchow und Joachim Kiesel fragen „Greift die Oder ins Elbegebiet?“ und beschreiben den konservierten Zustand des asymmetrischen, „ostlastigen“ Odereinzugsgebiets. Kern der Frage ist, inwieweit nacheiszeitliche Umbildungen im Oderflusssystem bereits abgeschlossen sind bzw. noch bevorstehen, insbesondere eine Symmetrisierung des Odereinzugsgebiet betreffend. Das Oderbruch als kultiviertes und kolonisiertes Resultat eines Sammelgebiets verschiedener Eiszeitabflüsse wird damit einmal mehr als ein dauerhafter Landschaftszustand in Frage gestellt. Weiteres Gewicht erhält eine solche Debatte dadurch, dass dieses Umbildungspotenzial mitteleuropäischer Flusssysteme auch östlich des Oderbruchs zu finden ist.

Wer heute festen Trittes über die weiten Flächen des Oderbruchs wandelt, ist sich kaum noch darüber bewusst, dass er sich auf altem Flussschwemmland bewegt. Fragt man heute, wie dieser einst unsichere Boden hierher kam, dann scheint die Antwort klar zu sein, zumal die Bezeichnung der Landschaft den Namen des Flusses verrät, der diesen Landstrich prägte. Am südöstlichen Rand des Oderbruchs schließen sich das Warthe- und Netzebruch an – alle drei bilden eine Art Bruchgebietsverbund, der für die Entstehungsgeschichte des Oderbruchs von entscheidender Bedeutung ist. Folglich waren also auch schon die Warthe und Netze an der Landschaftsgestaltung beteiligt, wie es auch deren heutige Flussverläufe nahe legen. Doch wer nimmt angesichts dieser geographischen Situation schon an, dass ein noch größerer Fluss an dieser Entwicklung beteiligt gewesen war; dass der Boden unter seinen Füßen auch von der Weichsel angeschwemmt wurde?

Wenn heute die Oder behäbig an der alten Festungsanlage von Küstrin vorüberzieht, dann tut das gleichzeitig auch die Weichsel, die ca. 300 Kilometer weiter östlich an Bromberg vorbei gen Norden strömt. Es scheint selbstverständlich zu sein, dass Beides bis auf die beteiligten physikalischen Kräfte nichts miteinander zutun hat, doch ein Rückblick in die geomorphologische Werdegeschichte beider Ströme zeigt ein anderes Bild.

Etwas nordwärts von Küstrin vereint sich die Warthe mit der Oder, die von Osten kommend, bis dorthin schon eine längere Strecke als die Oder hinter sich hat, aber ihren Namen am Zusammenfluss beider Flüsse verliert. Auf fast demselben Breitengrad weiter östlich im Stadtgebiet von Bydgoszcz (Bromberg) mündet die Brahe in die Weichsel. Diese beiden Nebenflüsse von Oder und Weichsel haben gemeinsam, dass sie durch einen weiteren Fluss und ein kurzes Kanalstück eine direkte Verbindung zwischen beiden Strömen herstellen. Nur etwa 20 Kilometer weiter westlich von Bromberg erreicht die aus dem Süden kommende Netze die Sohle des Thorn-Eberswalder Urstromtals und wendet sich trotz ihrer Nähe zur Weichsel nach Westen, um letztendlich in der Nähe von Gorzòw (Landsberg an der Warthe) in die Warthe zu münden. Die Nähe der beiden Flussbetten im alten Urstromtal nutzten 1773/74 die friederizianischen Baumeister und schufen eine 26 Kilometer lange Verbindung von der Netze zur Brahe – den Bromberger Kanal.

Die 22 Staustufen zwischen Küstrin und Bromberg, alle im Bereich der Netze und des Bromberger Kanals gelegen, zeigen an, wie gering das Höhenniveau über diese enorme Strecke ist, obwohl hier zwei große voneinander unabhängige Stromsysteme miteinander verbunden wurden. Die Erklärung dafür liegt mehr als 14.000 Jahre zurück, als die letzte Weichseleiszeit ihre Eiswand bis zu dieser Linie auftürmte. Das Eis taute bekanntlich ab und das Schmelzwasser suchte sich gemäß der natürlichen Abdachung der Bodenplatte einen Abfluss gen Westen und schnitt sich dabei tief ins Land. Zurück blieb das Urstromtal, welches bis heute Bromberg und Küstrin auf so markante Weise miteinander verbindet.

Im Westen vor den Höhen des Barnims sammelten sich mehrere Schmelzwasserabflüsse und schufen im Zusammenspiel mit Toteis-Ablagerungen eine Landschaft durch wechselnde Erosion und Sedimentation – das Oderbruch. Mit dem Rückgang des Eises und der allmählichen Öffnung nach Norden löste sich dieser Schmelztiegel auf. In mehreren Etappen suchte sich das Wasser einen Abfluss ins Meer, wobei auch die Weichsel zu jener Zeit ihren Weg über das Oderbruch nahm, bis ihr heutiger Abfluss durch das Abschmelzen des Eiskörpers im Osten frei wurde. Erst jetzt bildeten sich zwei voneinander isolierte Stromsysteme heraus, die jedes für sich mit der aufkommenden Siedlungsgeschichte durch menschliche Eingriffe gestaltet wurden. Trotzdem blieb diese Grenze zwischen beiden Strömen wegen des Thorn-Eberswalder Urstromtals bis heute wenig ausgeprägt, wie die Schaffung der schiffbaren Ost-West-Verbindung mittels des Bromberger Kanals zeigt – Weichsel und Oder haben sich seit ihrer Entstehung kaum voneinander entfernt.

Das Oderbruch ein Schmelztiegel, der einmal Dreh- und Angelpunkt der mitteleuropäischen Flüsse gewesen ist: Mit der heutigen Sicht auf das Oderbruch scheint diese Zeit mit dem Durchstich zwischen Güstebiese und Hohensaaten und der vollständigen Trockenlegung unter Friedrich II. endgültig besiegelt zu sein. Darüber hinaus scheint mit der Melioration und Deichpflege alles kontrollierbar geworden zu sein; auch wenn das heutige Flussbett der Oder denkbar ungünstig auf dem höchsten Punkt des Bodenreliefs des Oderbruchs verläuft und das durchschnittliche Höhenniveau des Landes kaum über die mittleren Wasserstände der Oder reicht.

Doch diese Sicherheit scheint zu trügen, wenn man neueren Überlegungen von Dr. rer. nat. Claus Dalchow und Joachim Kiesel vom Leibnitz-Zentrum für Agrarlandschaftsforschung in Müncheberg folgt, wonach geomorphologisch betrachtet die Möglichkeit besteht, dass die Oder unter bestimmten Bedingungen das Elbestromsystem anzapfen kann. Nach ihrer These werden im Bereich der alten Abfluss-Täler des Oderbruchs die westlichen Zuflüsse der Oder durch fortschreitende Erosion im Oberlauf eine Verbindung zu einzelnen Elbzuflüssen herstellen und diese in der Folge zur Oder umleiten. So könnte die Schlaube durch die Müllroser Pforte und ebenso die Stobber über die Buckower Pforte die Spree erreichen, und die Finow könnte über die Eberswalder Pforte die Havel angraben. Die dafür zu überwindenden Höhen betragen in allen Fällen weniger als 40 Meter – im Schlaube-Tal sind es sogar nur 17 Meter. Ähnlich verhält es sich mit den horizontalen Entfernungen: alle betragen heute weniger als 40 Kilometer und auch hier bietet das Schlaube-Tal mit nur 21 Kilometern den geringsten Wiederstand.

Aus heutiger Sicht liegt dieses Szenario zwar noch weit in der Zukunft, zumal der Mensch jederzeit durch Eingriffe diese Entwicklung unterbinden kann, doch untermauert der Kanalbau der letzten Jahrhunderte diese Bedenken, der diese natürlichen Wasserscheiden als geringe Geo-Barrieren entlarvt und für die Schifffahrt überwindbar gemacht hat. Das geöffnete Kanalbett der Oder-Spree-Verbindung böte schon heute bei Öffnung der Schleusen eine direkte Abflussmöglichkeit der Spree zur Oder, die schnell durch Erosion zu einer etablierten Fluss-Rinne ausgewaschen werden würde. Für den ersten Finow-Kanal soll sich derartiges auch schon einmal in Folge des Dreißigjährigen Krieges zugetragen haben. Wegen der ausgebliebenen Schleusenwartungen brach die Havel über die Finow zur Oder durch und verursachte schwere Überschwemmungen im nördlichen Oderbruchgebiet und ließ den Unterlauf der Havel hingegen verlanden. Erst durch das Aufschütten eines Dammes bei Zerpenschleuse und Neustadt-Eberswalde konnte das Abfließen der Havel gestoppt werden.

Das macht deutlich, wie sehr mit dem Eingreifen in die natürlichen Gegebenheiten auch die Verantwortung des Menschen gefragt ist, der in diesem Falle durch seine Kanalbauten eine natürliche Erosion vorweggenommen hat. Die Umleitung von Spree und Havel würde für die Oder eine wesentliche Erweiterung ihres Einzugsgebiets bedeuten. Die Spree als Nebenfluss der Oder hätte eine Erhöhung der Abflussmengen im Bereich des stromabwärts gelegenen Oderbruchs zur Folge, die das regulierte Flussbett zusätzlich beanspruchen würden. Die Havel hingegen könnte das Niederoderbruch wieder vernässen, da die Trockenlegungsmaßnahmen des 18. Jahrhunderts für eine grundlegend andere Situation vorgesehen waren, die in erster Linie das ostwärts einströmende Wasser von Oder und Warthe regulieren sollen.

Das alte Urstromtalsystem, welches sich über ganz Mitteleuropa erstreckt, hat sich über die Zeiten hinweg nur wenig gewandelt. Der Mensch hat es nur anheimelnd gestaltet und die wahre Gestalt der Landschaft verdeckt. Trotz aller zivilisatorischen Errungenschaften bleiben die Täler eine trügerische Idylle, die jederzeit schon für kleine Veränderungen – seien es Kanalbauten oder natürliche Ereignisse – empfänglich sind und drastische Entwicklungen anstoßen können. Solange also der Mensch diese Flussräume beansprucht, werden seinerseits auch entsprechende Anstrengungen dazu nötig sein, um diese Kulturräume zu erhalten.

Und dann gibt es da noch das alte Urstromtal im Osten, das Größte von allen, das die Weichsel mit der Oder verband und wieder verbindet durch den Bromberger Kanal. Die Schlaube, Stobber oder Finow mögen zwar langsam in die Nähe von Spree und Havel rücken, sind aber gerade einmal mittlere Zuflüsse der Elbe. Doch 300 Kilometer weiter im Osten reicht das Einzugsgebiet der Oder so nahe an den Hauptlauf der Weichsel heran, wie es nur selten und außergewöhnlich für solche Stromsysteme ist. Dabei lenkt die Weichsel kurz vor Bromberg ihren Lauf erst in Richtung Tal-Eingang, als wenn sie wie einst ihren Weg über das Oderbruch nehmen möchte, und biegt erst kurz davor nach Norden in Richtung Danzig ab. Im Westen, am Rande des Oderbruchs, ist die Warthe geblieben, die mit einem Großteil des Odereinzugsgebiets im Rücken, bei Küstrin in die Oder drängt – an der Stelle, wo einst die Schmelzwasser der Weichsel-Eiszeit aus dem Osten den Abfluss an den Westrand des Oderbruchs drückten.

Die Eiszeit hat das Land um uns herum entscheidend mitgestaltet und unauslöschliche Narben in Gestalt der Urstromtäler auf der Erdoberfläche hinterlassen und der Mensch wandelt seit jeher gern auf festen fruchtbaren Böden, wie es die Flüsse heranschwemmen. Doch die Vergangenheit dieser Flüsse und Täler zeigt ihre tatsächliche Gegenwart und macht deutlich, wie sehr auch ihre Zukunft von dieser Geschichte bestimmt sein wird.

Nicolaus Widera,
Jahrgang 1978, Oderbruchliebhaber, Studium der Linguistik, Literatur und Geschichte an der FU Berlin, freiberuflich als Reisejournalist und in redaktionellen Gremien tätig

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Blick auf Oder und Unteres Bruch von Zellin

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Heutiger Flusslauf am Rand des Thorn-Eberswalder Urstromtals

 

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Die Netze im Thorn-Eberswalder Urstromtal

 

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Netzebruch

 

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Wo einst die Schmelzwasser gen Westen drängten: Netzeflussbett

 

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Warthemündung bei Küstrin

 

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