J. Quast: Begründung und Wertung

Begründung der historischen Wasserbaumaßnahmen zur Trockenlegung des Oderbruchs und deren Wertung aus heutiger Sicht

Past and Present Value of Historical Hydraulic Engineering Measures towards Draining of the Oderbruch

Von Joachim Quast, Müncheberg

Zusammenfassung

„Der Neue Oder Canal“ zwischen Güstebiese und Hohensaaten (erbaut 1747-1753) war im Verbund mit der Eindeichung der damaligen Oder das Hauptstück des historischen „Masterplans“ zur Trockenlegung und Kultivierung des Oderbruchs. Der Kanal ermöglichte eine schnelle Ableitung von Hochwässern und minderte die Überflutungsgefährdung im Niederoderbruch. Es folgte die Binnenentwässerung im Polder, die später etappenweise intensiviert wurde. Für die prosperierende Kulturlandschaft im Oderbruch mit 60000ha fruchtbaren Böden wurden auentypische Strukturen auf marginale Reste reduziert. Nach dem Extremhoch wasser von 1997 wurden die früheren Ingenieurlösungen häufig grundsätzlich angezweifelt. Eine kritische Wertung bestätigt das Konzept von 1747 aber auch heute sowohl hydraulisch als auch wasserbaulich als überaus gelungen. Erforderlich sind Anpassungen an heutige agrarpolitische Rahmenbedingungen und ökologische Ziele. Dazu werden Konzepte vorgestellt.

Summary

‚The Neuer Oder Canal“ between Güstebiese and Hohensaaten (built 1747-1753), together with the embankment of the Oder, was the central element of the historical master plan for draining and reclamation of the Oderbruch. The canal allowed for rapid diversion of high flows and reduced the threat offlooding for the lower Oderbruch region. Polder drainage then followed and was later greatly intensified. Within the prospering man-made Oderbruch landscape covering more than 60 000 ha of fertile soils, wetland typical structures were reduced to marginal remnants. In the wake of the extreme flood of 1997, the historical engineering works were the subject of fundamental criticism. Despite the doubts, new evaluation confirms the great hydraulic and engineering success ofthe conceptual plans of 1747. Nevertheless, adaptation in light of modern agricultural policy and ecological goals is necessary. Selected concepts are presented towards decrease of drainage costs and for ecological revaluation (via wet zones near dikes and habitat reconsolidation along inner waters to be reconnected with the Oder River).

1. Einleitung

Mit der Trockenlegung und Inkulturnahme des Oderbruchs war bereits 200 Jahre vor den heute fast ausschließlich genannten friederizianischen Maßnahmen von 1747 bis 1753 begonnen worden. Am Anfang standen Ringdeiche um einzelne Siedlungen (z. B. Reitwein, Gorgast, Manschnow). Es folgte die Errichtung einer linksseitigen Deichlinie zwischen Lebus und Küstrin. Sie fixierte den Strom auf die an der Warthemündung gelegene Festung Küstrin und diente wie auch der in Ost-West-Richtung zwischen Seelow und Küstrin durch das hier 15km breite Bruch errichtete Straßendamm der Stärkung des Verteidigungspotenzials der Festung. Der Deich verhinderte aber auch das zuvor ab dem Reitweiner Sporn typische Auffächern der Oder in mehrere Arme, die über das in nordwestlicher Richtung abfallende Relief den Tieflagen des Bruchs am westlichen Höhenrand zuflössen, wo nach der geologischen Struktur auch der ursprüngliche Hauptstrom verlaufen sein dürfte (Bild l und Bild 2).

Begründung der historischen Wasserbaumaßnahmen zur Trockenlegung des Oderbruchs
Bild 1 Das Oderbruch vor und nach der Trockenlegung und Kolonisierung (nach Ratthey 1937).

Figure 1 The Oderbruch betöre and after draining and colonization (after Ratthey 1937).

Begründung der historischen Wasserbaumaßnahmen zur Trockenlegung des Oderbruchs
Bild 2 Geologischer Schnitt durch das Oderbruch entlang der Bundesstraße B1 Seelow-Küstrin.

Figure 2 Geologie profile of the Oderbruch along National Route B1 Seelow-Küstrin.

Im Dreißigjährigen Krieg gab es Deichzerstörungen und danach einen steten Verfall. Ende des 17. Jahrhunderts wurden Deichbau und Inkulturnahme im oberen Oderbruch intensiviert. Aber erst unter Friedrich Wilhelm I. kam es mit der Ausführung eines erhöhten Oderdeiches von Lebus bis Zellin zu einem wirklich nachhaltigen Schutz des oberen Oderbruchs. Mit der Fixierung des Stroms an den östlichen Rand des Bruchs gab es ab Lebus für etwa 40 Stromkilometer (das sind gut zwei Drittel der gesamten Längserstreckung des Oderbruchs) linksseitig hinter dem Deich Überflutungen des Bruchs jeweils nur bis zu den Rückstaulinien des Pegels Zellin. Die hochwasserfrei nutzbaren Flächen waren damit erheblich erweitert worden (vergl. Frielinghaus und Müller „Landnutzung im Flusspolder Oderbruch in den letzten 250 Jahren“ im diesem Heft). Bei Zellin kamen die Deichungsarbeiten dann für Jahrzehnte zum Erliegen, was vordergründig am Geldmangel und anderen Prioritätensetzungen des Soldatenkönigs Friedrich Wilhelm I. gelegen haben mag. Zu bemerken ist aber auch, dass es ein deutliches Längs- und Quergefälle des Oderbruchs nur bis in diesen Raum gab. Das anschließende Niederoderbruch war weitgehend eben und lag nur 2 bis 4 m über NN, während im südöstlichen Oberoderbruch zwischen Lebus und Reitwein das Gelände bei 12 bis 14m NN lag. Weitere Eindeichungen ab Zellin über das Oderknie bei Güstebiese westwärts nach Wriezen und dann über Freienwalde nach Oderberg wären wegen der bei Hochwasser unvermeidlichen Rückstausituation und des trägen Abflusses in das Untere Odertal kaum überflutungssicher realisierbar gewesen. Die vollständige Trockenlegung des Oderbruchs bedurfte grundsätzlich neuer Lösungen. Dieser Herausforderung stellte sich Friedrich II. bald nach Beginn seiner Regentschaft 1742. Ab l 747 wurde mit der Umsetzung eines für die damalige Zeit herausragenden ingenieurtechnischen und landeskulturellen Projektes begonnen. Staatspolitisches Hauptziel dabei war – wie bei späteren ähnlichen Großprojekten im Warthe- und Netzebruch sowie in der Weichselniederung und im Memeldelta – die Stärkung des Agrarsektors im immer noch an den Folgen des Dreißigjährigen Krieges schwächelnden Preußen mittels Landerschließung und Ansiedlung von im „Ausland“ angeworbenen Kolonisten.

2. Der Masterplan von 1747

Entscheidend war die Idee, der Oder mit einem Kanaldurchstich durch die Neuenhagener Landzunge, einem Teil der Pommerschen Endmoräne, an deren flachster Stelle zwischen Hohensaaten und Hohenwutzen und der Fortführung des Kanals bis Güstebiese, „einen schnellen Hochwasserabfluss zu verschaffen“ (Berghaus 1854, Fontäne 1863). „Der Neue Oder Canal“ würde den etwa 6 Meilen langen Oderlauf ab Güstebiese über Wriezen, Freienwalde und Oderberg nach Hohensaaten auf 2,5 Meilen verkürzen, das entsprach einer Abkürzung des bisherigen Oderbogens um 26 km (Bild 3). Im Verbund mit der Fortführung des linksseitigen Deichs ab Zellin und beidseitiger Deiche ab Güstebiese über Wriezen und Freienwalde sowie einem aus dem Kanalaushub errichteten linksseitigen Deich zwischen Güstebiese und Hohenwutzen könnte die vollständige Trockenlegung und Inkulturnahme des Niederoderbruchs gelingen.

Begründung der historischen Wasserbaumaßnahmen zur Trockenlegung des Oderbruchs
Bild 3 Skizzen zur Verkürzung des Oderverlaufs bei Theodor Fontane (1863) („der Oder einen schnellen Abfluss verschaffen“).

Figure 3 Sketch of the shortening of the Oder from Theodor Fontane (1863) („provide the Oder with a fast diversion of flow“).

Urheber dieses Plans war Simon Leonhard von Haerlem, ein ausgewiesener Wasser- und Kulturbauexperte holländischer Herkunft. Mit der Ausführung wurde im Sommer 1747 begonnen, aber erst nachdem auch der als Gutachter hinzugezogene Mathematiker Leonhard Euler seine Befürwortung gegeben hatte. Im Protokoll zur Oder-Bereisung der Experten von Schmettau, von Haerlem und Leonhard Euler vom 09. Juli 1747, das in der Wiedergabe bei Berghaus (1854) auf knapp l’/z Druckseiten eine Fülle von Einzelheiten zum Kanal- und Deichbau sowie zur Begründung der erhofften abflussverbessernden Wirkungen enthält, heißt es, dass „nachdem Hr. Professor Euler auch bei jetziger Befahrung des Strohms sich von allen Umständen gründl. informieret haben, so gehet deren Erklärung dahin, wie er davor halte, dass …“ Es folgen fünf kurze Abschnitte. Alle Drei unterzeichneten das Protokoll.

Euler bestätigte die Sinnfälligkeit der bereits abgesteckten Kanaltrasse und schlussfolgerte, dass die Oder infolge der erheblichen Abkürzung und des daraus resultierenden größeren Gefälles auf der kürzeren Strecke deutlich schneller fließen werde „und sich in die bisher überschwemmten Oder Brücher so viel weniger anspannen könne“. Für den Kanal wurde eine Breite von lediglich 8 bis 10 Ruthen vorgesehen (etwa 30 … 35 m) mit der Unterstellung, dass „sich nämlich der Canal zum völligen Abfluss der Oder hinlänglich erweitert haben wird, als wozu billig die erforderl. Zeit zu verstatten sei“. Die Oder erfüllte die Erwartungen bereits nach wenigen Hochwasserereignissen. Die Dämme/Deiche wurden so angelegt, dass auch auf der 20 km langen Kanalstrecke nach der durch Eigendynamik erfolgten Ausformung eines breiteren Flussbettes Vorländer von mindestens 30 bis 50 m als erweiterte Abflussprofile für die Hochwasserableitung erhalten bleiben sollten.

Die Deiche an der dann „alten Oder“ von Güstebiese über Wriezen und Freienwalde wurden nach ähnlichen Grundsätzen errichtet. Oder aufwärts von Güstebiese bis zum Anschluss an die alte Deichlinie bei Zellin gab es, wie auch weiter stromauf, ohnehin wesentlich breitere Vorländer von teilweise mehreren hundert Metern.

Mit diesen Wasserbaumaßnahmen, an deren Ausführung zwischen 1747 und 1753 ständig über 1000 Arbeitskräfte beteiligt waren, war die Oder vollständig an den östlichen Rand des Bruchs „gedrängt“ worden und floss dort auf der höchsten Reliefposition östlich des Polders. Das Sohlgefälle des nunmehr unverzweigten Stroms war vergleichmäßigt worden mit einem etwas größeren Gefälle zwischen Lebus und Küstrin (ca. 0,27 %o) und einem etwas geringeren Gefälle von ca. 0,17 %o bis Hohensaaten.

Die Deiche schützten das überall tiefer als das Oder-MW gelegene Poldergebiet vor Überflutungen bei ausufernden Wasserständen. Da das Bruchrelief von Ost nach West z. B. entlang der Straße Küstrin-Seelow um etwa 5 m, aber auch weiter nördlich noch 4 bis 2 m abfällt, bestand (und besteht) bei Versagen der Deichlinie die Gefahr von Flutwellen in Richtung der Tieflagen des Bruches und der Überflutung weiter Polderbereiche. Als besonders neuralgische Stellen mit zahlreichen Deichbrüchen erwiesen sich die Abschnitte bei Reitwein im Süden und an der Kanalstrecke oberhalb von Hohenwutzen. Aus der Tieflage des Oderbruches resultierten ganzjährig, also auch bei Mittel- und Niedrigwasserständen der Oder, Drängewasserzuflüsse in den Polder. Daraus ergaben sich dann auch die besonderen Anforderungen an den dritten Hauptpunkt des Konzeptes von 1747, nämlich „das Binnenwasser aufzufangen und abzuführen“. Außerhalb der Hochwasserperioden gelang das bald recht gut mit Grabensystemen unter Einbeziehung alter Oderarme im freien Gefälle in Richtung Wriezen und Freienwalde bis zur Einleitung in den Hauptstrom bei Hohensaaten. Tieflagen blieben vernässt oder konnten nur als Feuchtgrünland genutzt werden. Bei Hochwasser gab es auch weiterhin Rückstauüberflutungen in Teilen des Niederoderbruchs.

3. Spätere Maßnahmen

Nach dem Beginn der Kolonisation des Oderbruchs um 1753, eindrucksvoll belegt durch die Gründung zahlreicher „Neudörfer“, ging es später über mehr als zwei Jahrhunderte immer wieder darum, zum einen die Deiche zu ertüchtigen und hochwassersicherer zu machen und zum anderen, die Binnenentwässerungssysteme zu vervollkommnen, um neue Flächen in Kultur nehmen zu können und die Rückstauüberflutungen bei Oder-HW zu reduzieren. 1832 wurde deshalb die Alte Oder bei Güstebiese vollständig abgeriegelt. Sie hatte ihre Funktion für die Schifffahrt ohnehin längst verloren.

1849 bis 1859 wurde mit dem Durchstich von Hohensaaten zur Stolper Niederung und dem Bau einer Schleuse bei Hohensaaten (HEUERscher Plan) rückstaufreie Vorflut für das Niederoderbruch geschaffen. Diese Lösung wurde später (bis 1923) im Zuge des Ausbaus der Hohensaaten-Friedrichsthaler-Wasserstraße weiter vervollkommnet (Mengel 1930).

Nach der für die Inkulturnahme von Bruch- und Sumpfgebieten üblichen Primärentwässerung mit relativ vielen kleinen und flachen Gräben war bald klar, dass das Drängewasser nur mit solchen Gräben wirksam abgefangen werden konnte, die die Deckschicht durchstießen und bis in den sandigen Grundwasserleiter reichten (Auendeckschicht im Oderbruch bis maximal 3m, häufig 0,5 … 1,5 m). Depressionslagen, deichnahe Bereiche und vor allem der gesamte Glietzener Polder (rechts der Alten Oder bis zur „Neuenhagener Insel“) konnten mangels ausreichender Vorflut lange Zeit nicht für eine Ackernutzung erschlossen werden. Noch 1885 hebt das Brockhaus Conversationslexikon für diese Flächen den „üppigen Wiesenwuchs“ und eine „treffliche Viehzucht“ hervor. Etwa um diese Zeit wird binnendeichs an der Kanalstrecke unterhalb Zollbrücke in einem Abstand von 300 … 500 m vom Deich ein niedriger „Drängewasserdeich“ angelegt, um diese Flächen bei Oder-HW über ein ebenfalls eingerichtetes Sielbauwerk l bis 2 m über Gelände fluten (bespannen) zu können. Durch Verringerung der Wasserspiegeldifferenz zwischen außen- und binnendeichs wurden der Drängewasseranfall und auch die auf den Deichfuß wirkenden Strömungskräfte gemindert. Dieses System wurde bis in die 1920er Jahre genutzt.

Entscheidende Intensivierungsschübe zur Erschließung weiterer ackerfähiger Standorte gab es ab 1895 mit der Inbetriebnahme des ersten Schöpfwerkes bei Neutornow. In den folgenden Jahrzehnten waren Schöpfwerke die bevorzugten technischen Innovationen zur fast vollständigen Erschließung des Oderbruches für eine Ackernutzung. Feuchtflächen wurden auf marginale Reste von zuletzt weniger als 5 % der Gesamtfläche zurückgedrängt.

Es gab Meliorationskampagnen um 1890 bis 1895 für das Mittel- und Niederoderbruch (Gerhardt 1892) und 1924 bis 1928 erneut ein Programm zur Binnenentwässerung und Dränung (Sonderplan von JOEST) (Mengel 1930). In dieser Zeit wurde auch die gezielte Flutung des Drängewasser Deichsystems eingestellt. Die Standsicherheitsvorteile dieser Lösung für die Deiche hatte man offensichtlich vergessen. Die Erschließungs- und Betriebskosten für die schwer zu entwässernden Bereiche stiegen deutlich an, insbesondere auch wegen erhöhter Drängewassermengen. Vorhaben zur Eindeichung neuer Polder zwischen 1930 und 1940 wurden nur teilweise realisiert und bei Kriegsbeginn abgebrochen.

Eine völlige Neugestaltung des Binnenentwässerungssystems gab es dann nochmals in den 1970er Jahren mit der „Komplexmelioration-Oderbruch“. Schwerpunkte waren die Schaffung großer Wirtschaftsflächen durch weniger, dafür größer dimensionierte Gräben in Kombination mit zahlreichen neuen Schöpfwerken. Ackernutzung sollte möglichst bis unmittelbar an den Deich gesichert werden.

4. Neuere Untersuchungen und rezente Konflikte

Zur Vorbereitung der Komplexmelioration sind 1970/1971 erstmals Feld- und Modelluntersuchungen zum flächenhaften Grundwasserregime und dabei insbesondere zu den Drängewasserzuflüsse von der Oder in das Bruch erfolgt (Quast 1972, Quast und Müller 1973). Szenarioanalysen mit Hilfe eines regionalspezifischen elektroanalogen Widerstands-Netzwerkmodells wiesen das ganze Oderbruch bis fast an den westlichen Höhenrand als ganzjährig Drängewasser beeinflusst aus (Bild 5). Maximale Zuflüsse wurden in den bereits früher als kritisch erkannten Bereichen bei Reitwein und Hohenwutzen festgestellt. Ursache sind die an diesen Abschnitten besonders mächtigen (> 20 m) und sehr gut durchlässigen sandig-kiesigen Grundwasserleiter, die auf historische Oderverläufe zurückzuführen sind. An beiden Abschnitten sind auch die höchsten geohydraulischen Gradienten am luftseitigen Deichfuß aufgetreten, die nicht zuletzt auch ausschlaggebend für die Standsicherheitsprobleme der Deiche während des Extremhochwassers 1997 gerade an diesen Stellen gewesen sein dürften. Im August 1997 sind ca. 50m vom Deichfuß entfernt Grundwasserdruckhöhen von l ,60 m über Gelände gemessen worden. Zwei Meter Gegendruck in einem gefluteten Drängewasserpolder, wie 100 Jahre zuvor üblich, hätten diese Strömungskräfte neutralisiert.

Die Drängewassermodellierung von 1970/1971 diente vorzugsweise der Ermittlung von Bemessungsabflüssen für Binnengräben und Schöpfwerke für ein Hochwasser MHW +1 m. Für die Binnengräben galten Wasserstände „bordvoll“ bzw. „l m u. Flur“, um einerseits die Drängewasserzuflüsse gering zu halten und andererseits flächenhafte Überflutungen zu vermeiden. Entlang der gesamten 60 km Deichlinie war mit Drängewasser von 15 … 20 m3 s“1 bei HW und 3 … 5 m3s~1 bei MW zu rechnen. Besonders hohe und vernässungsrelevante Drängewassermengen wurden für die ersten 100…500m (max. 1000m) binnendeichs ausgewiesen. Schöpfwerksbetrieb für diese Bereiche ließ hohe Schöpfmengen und damit hohe Betriebskosten erwarten. Gerade diese Betriebsweise hat aber seit 1975 vorgeherrscht. Auch im übrigen Bruchgebiet ist mit unterschiedlichen Begründungen (z. B. Nutzung von Depressionslagen) fast ständig zu tief entwässert worden, in großen Bereichen bis auf Grundwasserstände von 2 bis 3 m unter Gelände. Jüngste Grundwasserszenarien im Auftrag des Landesumweltamtes Brandenburg (WASY1999) bestätigen die Ergebnisse von 1972 und weisen detailliert Defektbereiche aus. Einsparpotenziale beim Grabensystem und beim Schöpfwerksbetrieb sind offensichtlich. Zudem steht die Notwendigkeit einer ökologischen Aufwertung des Oderbruchs durch Erhöhung der Feuchtflächenanteile und die Herstellung von Biotopverbünden heute außer Zweifel.

Nach dem Hochwasser von 1997 gab es oft die Frage, ob das bisherige Schutzsystem in seiner Grundstruktur aufrechterhalten werden kann oder aber das Konzept von 1747 verworfen werden müsse. Sollte man die Deiche zurückbauen, wenn man schon den Polder wegen seiner Besiedlung und seines kulturhistorischen Erbes nicht ganz aufgeben könne? Müsste nicht die Engstelle am Durchstich der Neuenhagener Landzunge zwischen Hohenwutzen und Hohensaaten aufgeweitet werden? Welchen Effekt könnte ein Offnen des erst in den 1930er Jahren eingedeichten Sophienthaler Polders als Retentionsraum haben? Und schließlich die Fragen besorgter Bürger, ob nicht durch regelmäßiges Ausbaggern der Oder die Hochwasserscheitel gesenkt werden könnten? Dazu geführte hydraulische Untersuchungen (BAW2002) bestätigen das bestehende System als hydraulisch leistungsfähig und durch die in den kritischen Fragestellungen angesprochenen Änderungen hydraulisch nicht oder nur marginal verbesserbar. Eine gewisse Wasserspiegelabsenkung in der Engstelle wird bei Öffnung des Lunow-Stolper Polders im Unteren Odertal erwartet. Zur Minderung von HW-Scheiteln im Bereich des Oderbruches wären aber auch Retentions- bzw. Retardationsmaßnahmen in oberhalb gelegenen Poldern denkbar (Bild 4).

Begründung der historischen Wasserbaumaßnahmen zur Trockenlegung des Oderbruchs
Bild 4 Schema der Polderreihung an der Mittleren und Unteren Oder.

Figure 4 Polder linkage scheme along the middle and lower reaches of the Oder.

5. Schlussfolgerungen und Vorschläge

Der „Masterplan“ von 1747 ist bei Unterstellung einer auch künftig anzustrebenden Erhaltung des Oderbruch-Polders als Lebens- und Wirtschaftsraum für seine Bewohner und als hochrangiges Kulturerbe auch aus heutiger Sicht als eine außerordentlich gelungene Ingenieurlösung einzuschätzen. Sie bedarf keiner grundsätzlichen Änderungen. Die unmittelbar nach dem Sommerhochwasser 1997 begonnenen Deichrekonstruktionen nach dem neuesten Stand der Technik sind in ihrer Trassierung durch die hydraulischen Untersuchungen vollauf bestätigt worden. Deichrückbau mit neuer Deichlinie wäre ökonomisch nicht vertretbar und würde auch ökologisch kaum nennenswerte Effekte bringen. Die verbliebene Aue mit breiten Vorländern linkseitig und ohne Eindeichung rechtsseitig ist auch heute durch eine gute ökologische Situation gekennzeichnet.

Entscheidende Aktivitäten für ökologische Aufwertungen, Kosteneinsparungen, Landnutzungsanpassungen, Stärkung des touristischen Potenzials und die Kulturerbepflege müssen im Oderbruch-Polder selbst unternommen werden. Dazu sind seit Jahren Ansätze für ein „Konzept Oderbruch 2010“ entwickelt worden, die nach anfänglicher Kritik inzwischen weitgehend Akzeptanz gefunden haben

(Quast 1999).

Bild 5 Übersicht zum Konzept „Oderbruch 2010“,

Figure 5 Overview of the concept „Oderbruch 2010“.

Als Maßnahmen werden vorgeschlagen (Bild 5)

  • Ökologische Aufwertung des deichnahen Bereiches und gleichzeitige Reduzierung der Drängewasserzuflüsse durch Anlage eines 200 bis 500 m breiten Feuchtgebietsstreifens binnendeichs.
  • Anheben zu tiefer Grundwasserstände durch höhere Stauziele und durch Reduzierung des Binnengraben systems unter Nachweis hydraulischer Sinnfälligkeit und gleichzeitiger Akzeptanz der Wiedervernässung ehemaliger Feuchtflächen in Depressionslagen. Senkung der Kosten für Binnenentwässerung und Schöpfwerke um 30 bis 40 %.
  • Wiederanschluss von Oderaltarmen an die Stromoder mittels hochwassersicherer Siele. Wiederherstellung der Fließgewässerdurchgängigkeit und Stützung des Polderwasserhaushalts in Trockenperioden. Gestaltung ökologischer Korridore entlang der Hauptgewässer für einen Biotopverbund zwischen Oder und dem westlichem Höhenrand.
  • Gewährleistung intensiver landwirtschaftlicher Nutzung auf 85 bis 90 % der bisherigen landwirtschaftlichen Nutzflächen.
  • Denkmalpflegerische Aktivitäten für oderbruchtypische bäuerliche Wohn- und Wirtschaftsgebäude, Kirchen und Dorfanlagen.

Das Hauptproblem wird inzwischen darin gesehen, partizipativ vorzubereitende Konsenslösungen schrittweise so um zusetzen, dass sie der angestrebten nachhaltigen Entwicklung multifunktionaler Polderlandschaften genügen und vor allem die sozialen Belange der Oderbruchbevölkerung hinreichend berücksichtigen.

Literatur
BAW (2002): Untersuchungen zur Verbesserung der Hochwasserabfuhr in der Oder-Engstelle bei Hohenwutzen (Od-km 661,5 bis 62,6). Untersuchungsbericht der Bundesanstalt für Wasserbau Karlsruhe im Auftrag des Landesumweltamtes Brandenburg und des Wasser- und Schifffahrtsamtes Eberswalde.
Berghaus, H. (1854): Landbuch der Mark Brandenburg und des Markgrafthums Nieder-Lausitz in der Mitte des 19. Jahrhunderts oder
geographisch=historisch=statistische Beschreibung der Provinz Brandenburg, Brandenburg.
BROCKHAUS-CONVERSATIONS-LEXIKON (1885), Leipzig.
Fontane, Th. (1863): Wanderungen durch die Mark Brandenburg – Das Oderland, Aufbau-Taschenbuch, Berlin 1995.
Gerhardt, N. N. (1892): Denkschrift betreffend die Melioration des Mittel- und Niederoderbruches, bearbeitet im Auftrage des Ministers
für Landwirtschaft, Domänen und Forsten von Gerhardt, Meliorations- und Bauinspektor in Berlin, Berlin, 25.
Mengel, H.-F. (1930): Das Oderbruch, Bd. 1 u. 2, Eberswalde.
Quast, J. (1972): Drängewasserberechnung Oderbruch, Untersuchungsbericht für die Wasserwirtschaftsdirektion Spree-Oder-Neiße,
Cottbus; Institut für Wasserwirtschaft, Berlin.
Quast, J.; Müller, G. (1973): Untersuchung der regionalen Grundwasserströmung im Oderbruch, Wasserwirtschaft/Wassertechnik, Berlin, 23, 235-241.
Quast, J. (1998): Aktuelle wasserwirtschaftliche Fragen des Oderbruchs. In Darkow, G. u. Bork, H.-R. (Hrsg.): Die Bewirtschaftung von Niederungsgebieten in Vergangenheit und Gegenwart. ZALF-Bericht 34, Müncheberg, 57-72.
Quast, J. (1999): Wege zu einem nachhaltigen Miteinander von Landnutzung, Naturschutz und Wasserwirtschaft, In: Arch. Acker-, Pflanzenbau u. Bodenkunde. 44, 323-347.
Ratthey, W. (Hrsg.): Heimatatlas für Berlin und die Kurmark. 10. Aufl., Leipzig 1937.
WASY (1999): Erarbeitung von Grundlagen für die wasserwirtschaftliche Rahmen- und Bewirtschaftungsplanung im Oderbruch, Studie der WASY GmbH Berlin für das Landesumweltamt Brandenburg.

Kontakt
Prof. Dr.-Ing. habil. Joachim Quast,
Leibniz-Zentrum für Agrarlandschafts- und Landnutzungsforschung (ZALF) e.V.
Institut für Landschaftswasserhaushalt
Eberswalder Str. 84
15374 Müncheberg

E-Mail: jquast@zalf.de

Weitere Beiträge:
<<< Das Oderbruch 2010. Gespräch mit Herrn Professor Dr. – Ing. habil. Joachim Quast