Die Kirche im Dorf
Über Neutornow und seine Gemeinde
Steht man auf dem Kirchberg in Neutornow, auf dem kleinen Plateau zwischen Fontanegrab und Kriegerdenkmal, fängt einen die Idylle ein. Unten im Dorf reihen sich die Häuser, dazwischen schnattern Enten und gackern Hühner, weiter zum Schöpfwerk hin hört man Geräusche aus dem Kuhstall: ein sanftes Muhen, ab und an einen Trecker. Die Alte Oder schlängelt sich glitzernd vor den weiten Feldern hin. Oben schlägt die Kirchturmuhr, hinter dem Zifferblatt nistet eine Schleiereule. Selten bellt ein Hund. In den Baumwipfeln der Neuenhagener Insel singen die Vögel, darüber das Pfeifen des Mäusebussards.
So muss es sein, denkt man sich, das perfekte Dorf und mitten darin die freundliche Kirche; gut saniert, einst für die Kolonisten auf königlich-friderizianischem Grund gebaut, und im Verlaufe ihrer Geschichte durch den Aufsatz einer Empore und Anbau eines Glockenturms immer stolzer geworden.
„Ihr habt es aber schön hier!“ sagen die Gäste aus Berlin und anderswo, wenn sie nach Neutornow kommen und sie haben Recht: Wir haben es schön. Wir machen auch etwas daraus. Die Kirchgemeinde hat ein hübsches und gut funktionierendes Gemeindehaus. Hier treffen sich d ie Kinder zur Christenlehre und die alten Leutchen zur Frauenhilfe, hier singt der Gemeindechor und werkelt der Bastelkreis, immer wieder probt auch eine kleine Band im Keller und der herrliche Garten, der sanft zum Wasser abfällt, steht für die Gemeindefeste offen. Da klappt man auch die Leinwand auf und guckt zusammen Fußball, wenn große Spiele stattfinden, Bier und Brause stehen kühl im Keller bereit. Gegenüber auf dem Parkplatz wurde sogar ein kleiner Adventsmarkt veranstaltet; der kleinste im Oderbruch, wie man augenzwinkernd verkündete. Derweil zeigte man oben in der Kirche den Film „Merry Christmas“, in dem von den Verbrüderungen der Soldaten im ersten Weltkrieg erzählt wird.
Die Kirche, wie gesagt, ist ein Kleinod: Von allen Seiten flutet das Licht herein als wollte es ein Fest feiern. „Tut mir auf die schöne Pforte“ steht über der Eingangstür, und die Tür wird auch wirklich aufgetan, zu Taufen und Konfirmationen, zu Ostern, Erntedank und Weihnachten und zu vielen normalen sonntäglichen Gottesdiensten – außer am Himmelfahrtstag, da trifft man sich am Feldbackofen in Gabow. Während des Gottesdienstes breiten sich Kuchen- und Kaffeeduft aus und der Himmel ist an diesem Tage offen für Hoffnung und Genuss.
Die schöne Pforte der hellen Kirche wird auch zu den zahlreichen Konzerten aufgetan. Was gab es nicht schon für Klänge in diesem kleinen Haus: klassische Vokalmusik und Irish Folk, Jazz auf der Marimba und Violinkonzerte, Klezmer und Kleinkunst. Jeden Sommer singt hier das Herrenwieser Vokalensemble, das von der Gemeinde mit freier Kost und Logis unterstützt wird. Die Kirche ist dann bis auf den letzten Platz gefüllt und man hat fast den Eindruck, dass die Mauern ein bisschen beben, wenn die sechzehn Sängerinnen und Sänger aus ganz Deutschland den ersten Choral anstimmen.
Im Herbst ist Martinsfest. Da treffen sich die Kinder aus dem freien Kindergarten oben auf dem Friedhof, wo ein kleines Anspiel aufgeführt wird, nach Möglichkeit mit einem echten Pferd und mit richtigen Fackeln, die die Geschichte von Martin so gut beleuchten. Hinterher ziehen sie mit ihren Laternen hinunter zum Kindergarten, wo man am Lagerfeuer zusammen singt: Ein armer Mann, ein armer Mann, der klopft an viele Türen an. … Vergiss den andern nicht, drum brennt das kleine Licht.
So ist es in Neutornow. Mehr kann man sich kaum wünschen für eine Kirche im Dorf.
Und doch könnte man sich etwas wünschen, nämlich dass es nicht nach zweihundertfünfzig Jahren auf einmal vorbei ist mit der kleinen Herrlichkeit. Dass es auch weiterhin hier Gottesdienste, Konzerte und kleine Feste gibt. Dass die Kirche nicht nur als Baukörper im Dorf bleibt sondern auch als Teil des täglichen Lebens und Miteinanders.
Eine Kirchgemeinde braucht Gemeindeglieder. Heute, im Jahre 2009, sind es vielleicht noch 120, aber sie nehmen ab. Die Alten sterben, die Kinder der wenigen jungen Familien ziehen fort. Für den Ältestenrat findet man nur noch mit Mühe aktive Mitstreiter. Im Gottesdienst sind die meisten Reihen leer. Im Dorf gibt es viele, die die Kirche noch nie von innen gesehen haben. Neutornow ist ein Straßendorf, die Alten kennen jeden Hof und eine Geschichte dazu, aber die Zusammengehörigkeit lässt nach.
Gerade war eine polnische Kirchgemeinde zu Besuch, die sich in Stare Lysogòrki (Altlietzegöricke) um geistig Behinderte kümmert. Gemeinsam gaben sie ein Konzert in der Kirche, es war eine wunderbare Stunde Musik und nachher trank man zusammen Kaffee. Ein bisschen war es auch als Beginn einer gemeinsamen Freundschaft gedacht, denn die polnischen Gäste waren sehr nett und sie haben Interesse für ihre Nachbarn. Aber wer kam aus dem Dorf, um zuzuhören und zu plaudern? Kaum jemand.
Und der ganze Bestand macht Arbeit. Ein täglicher Blick auf den Friedhof, auf die Zäune, auf Dach und Mauerwerk: Ist alles in Ordnung, muss etwas repariert werden? Still und umsichtig haben die Neutornower Jahrzehnte lang ihre Gemeinde geführt und ihre Anlagen in Schuss gehalten, sparsam, einfallsreich, solidarisch. Die Neutornower, das hört sich an wie ein ganzes Dorf. Es waren aber nur eine Handvoll Menschen. Eine Handvoll, so viele sind schon vonnöten, damit es weiter geht. Sicher, man kann die tägliche Pflege an Firmen abgeben, solange man es sich leisten kann, aber irgendwann, wenn nicht einmal mehr ein Nutznießer da ist, kann man es auch lassen. Das tägliche Tun, das sich Kümmern und Bedenken ist außerdem ein guter Teil dessen, was das Leben hier so lebenswert macht. Wenn man alles aus der Hand gibt, ist man die Arbeit los, das stimmt wohl. Aber was macht man dann mit der gewonnenen Zeit?
Die Sorgen um die Kirche im Dorf Neutornow sind nichts Außergewöhnliches. In ihnen spiegeln sich die ganz normalen Probleme im ländlichen Raum unserer Region. Die Sozialstruktur verändert sich, es finden weniger Menschen hier Arbeit und Perspektive, die Alten haben die Kraft nicht mehr, die Jungen prüfen die Traditionen auf ihre Interessen hin. Nur was die Leute selbst und aus eigenem Antrieb tun, hat Bestand. Es ist schon viel, wenn sie wenigstens durch die Politik und die Institutionen nicht daran gehindert werden, ihre Strukturen zu erhalten. Von Postamt, Konsum, Kneipe und Bahnhof hat man sich in den meisten Orten längst verabschiedet. Um Kindergärten, Schulen und Kirchen wird hier und da noch gerungen. Wo man schon verloren hat, bleiben Agrarbetriebsflächen übrig, die durch stumme Wohngebiete unterbrochen sind.
Vieles scheint selbstverständlich. Der Blick vom Fontanegrab ins Dorf ist gratis und muss doch jährlich mühsam vom Aufwuchs der Robinien freigehalten werden. Der Himmelfahrtstag am Feldbackofen wirkt leicht wie Zuckerwatte und muss doch von vielen Menschen organisiert werden. Die Konzerte der vielen Künstler ergeben sich beinahe von selbst und sind doch auf ein Publikum angewiesen.
Idylle scheint gegeben, in Wahrheit wird sie erarbeitet. Das sieht man als Besucher kaum. Und als Bewohner, als Einheimischer, als jemand, der von hier ist – was ist es einem Wert? Überleben wird nur, was den Menschen, die hier bleiben, wirklich wichtig ist. Ob die Kirche im Dorf dazu gehört, wird sich zeigen.
Kenneth Anders
Weitere Beiträge:
<<< Kirche im Oderbruch – eine Skizze von Erdmute Rudolf