Vevey – Vevais – Wewe
Erzählte Vergangenheit?
Geburtsort Vevais. Biografien zusammengetragen von Inge Müller. Eigenverlag der Verfasserin, Vevais 2010. Hardcover A4, 104 S.
2012 wurde anläßlich seines dreihundertsten Geburtstages wieder des Alten Fritzen gedacht – besonders im Oderbruch. Auch wenn sein Ausspruch „Hier habe ich im Frieden eine Provinz gewonnen“ der Phantasie späterer Friedrich-II-Verehrer entsprungen ist, war es seine Regierungszeit, in der durch Kanalbau- und Trockenlegungsarbeiten die heutige Landschaft geschaffen und die Ansiedlung von 10.000 Einwanderern ermöglicht wurden. Man mag kaum glauben, dass er in der gleichen Zeit auch seine berühmten drei blutige Angriffskriege führen konnte. Allein in der Schlacht des siebenjährigen Krieges im nahen, östlich von Küstrin gelegenen Kunersdorf (Kunovice) starben in sechs Stunden 18.000 preußische Soldaten! Trotzdem erfährt der Alte Fritz immer noch so große Verehrung, dass er nicht nur als Name von Gasthöfen im Gedächtnis bleiben, sondern sich auch in Gestalt verwandlungsfreudiger Oderbrücher häufig auf Dorffesten tummeln kann.
Auch der hier vorgestellte und reich bebilderte Band eröffnet mit ihm – es ist der „Malermeister Balke aus Neutrebbin in voller Montur“, wie die daneben stehende Beschreibung verrät. Es zeigt ihn im Gespräch mit einem heutigen „echten Ureinwohner“ des vor 250 Jahren gegründeten Neusiedlerdorfes Vevais, drei Kilometer südlich von Wriezen, jetzt zur Gemeinde Bliesdorf gehörig. Aus dem damaligen preußischen Besitz bei Neuchatel, am Genfer See in der Schweiz, waren französisch sprechende Siedler angeworben worden; sie hatten ihr Neudorf wohl nach dem (fast) gleichnamigen Ort Vevey am Genfer See benannt. Im Bildband sind aber nicht die damaligen Dorfgründer porträtiert sondern die heutigen Bewohner, die schon sehr lange – bis zu neunzig Jahren – und meist ihr Leben lang in Vevais geblieben sind. Immerhin waren das siebzehn der heutigen Einwohner. Zahlreiche meist farbige Fotos der sich über die Zeit wandelnden Häuser wurden von der Autorin zusammen getragen. Aus vielen Interviews erfuhr sie dazugehörige Familiengeschichten.
Dem Leser wird erzählt, was den Bewohnern und der Autorin aus der Vergangenheit der Ereignisse des zwanzigsten Jahrhunderts besonders im Gedächtnis geblieben ist. Das sind meist nicht die in Geschichtsbüchern verzeichneten Begebenheiten sondern eher Geschichten dieser Art, wie sie in den Familien überliefert worden sind: furchtbare Brände, bei denen 172 Einwohner obdachlos wurden (4); der Tod dreier von sechs Söhnen, die schon als Kinder verstarben (5); 35 Kinder aller Altersstufen in einer Klasse von 1909 (6); 16 stolze Mitglieder des Junglandbundes 1936 (31); „die Beeinflussung der Jugendlichen durch die Nazis, die auf eine anständige Jugendarbeit besonderen Wert legten,“ ging an den Jugendlichen „nicht vorbei“ (84); die „Einberufung zum Einsatz als Marinehelfer [schien] für den Fünfzehnjährigen anfangs nur ein schönes, neues Erlebnis …, wo man sich nicht ausschließlich mit der blöden Schule beschäftigen musste“ (84); die Zeit als Haustochter bei einem Regierungsbaurat mit 15,00 Mark Taschengeld 1935 (32); eine junge Frau „feierte 1941 … fröhlich ihren Geburtstag, nicht ahnend, dass der geliebte Mann gerade an dem Tag für Führer, Volk und Vaterland sein Leben lassen musste. Aber der treu sorgende Staat, der für die deutsche Mutter eine ganz besondere Liebe hatte, hatte für solch Ungemach doch eine tröstende Einrichtung bereit, durch Ferntrauung konnte noch mit dem gefallenen Helden die Ehe geschlossen werden, wenn ein Kind zu versorgen war“, das Foto zeigt die „in feierlichem Schwarz gekleidete Braut … mit dem Bild des gefallenen Soldaten“ (46); einer Familie waren im Kriege „von der fürsorglichen Staatsmacht … zwei polnische Zwangsarbeiter zugewiesen worden“ (57); eine Einberufung erfolgte zu einer 120 Mann starken Truppe, die in der Front bei Metz in kurzer Zeit bis auf 7 Mann „dezimiert“ wurde (19); im Gefangenenlager in Arizona hatten die deutschen Soldaten ein „faules Leben“ (20); die typhuskranke Schwester musste nach Kriegsende „mit einer Schubkarre nach Wriezen ins Krankenhaus gekarrt werden“, starb aber trotz der Fürsorge „des japanischen Seuchenarztes Kojenuma“ (sic!) (60); nachdem „alle Bauern, der Stellmacher und die Mühle … Mitglied der LPG geworden“ waren, hatte nur ein Beerdigungstag in der Familie die „aggressiven Werber davon abgehalten, den Schmiedebetrieb in die Genossenschaft einzuverleiben“ (98); die im Jahre 1960 noch freien Landwirte des Ortes wurden in die LPG „gedrängt“ und mussten mit Einkünften leben „wie die heutigen Hartz-4-Empfänger“ (24); die neu erbaute Umgehungsstraße für Wriezen trennte einen Teil der Grundstücke aus dem Dorfzusammenhang (26).
Das Buch kann das Interesse der Oderbruchbewohner an der jüngeren Vergangenheit wecken. Vielleicht sollte dazu mehr aufgeschrieben werden? Das hundertseitige, großformatige, auf den meisten Seiten mehrere Farbbilder enthaltende Buch beschreibt alle “echten Ureinwohner”, die noch heute im alten Kolonistendorf Vevais – „die jetzigen Einwohner sprechen einfach von ‚WEWE’“ (3) – wohnen und dort geboren wurden.
Von Udo Schagen, Dezember 2012