Vernissage … Finissage
Der folgende Text gibt die Rede von Kenneth Anders anlässlich der Vernissage zur Ausstellung PUNKT. wieder.
Meine Damen und Herren,
wir stehen hier in einem Bahnhofsgebäude. Den Namen verdient es eigentlich nicht mehr, der Wartesaal ist wegen Vandalismus geschlossen und so steht das Haus heute im Weg, es ist lästig, dass man immer darum herum laufen muss, wenn man zu den Bahnsteigen will. Oder doch besser zu dem Bahnsteig, denn die Bahnsteige wurden zusammengelegt, sodass man zwar nicht mehr durch die verwahrloste Unterführung mit der beißenden Luft gehen muss, dafür nun aber einen noch längeren Weg hat, wenn man Richtung Frankfurt fahren will.
Ein Bahnhof ohne Schalter und ohne Bahnpersonal hat etwas grauenvoll Sinnloses. Deshalb waren die neuen Nutzer, die hier vor einigen Jahren einzogen, ein Segen.
Heute sind wir dabei, wenn die letzte Nachnutzung des Bahnhofsgebäudes vorerst die Segel streicht: die Galerie am Bahnhof setzt einen Schlusspunkt für sich selbst und für die ganze Nachwendegeschichte unseres schönen denkmalgeschützten Freienwalder Bahnhofs auch. Die Bahnhofskneipe hatte ja schon vor Jahren zugemacht, der Fahrradverleih hat die Türen einstweilen geschlossen, nicht einmal die Spielothek hat sich lange unter diesem Dach gehalten. Auf den Zigarettenautomaten und den Briefkasten könnte man auch verzichten, sie werden ohnehin mindestens jede Silvesternacht gesprengt.
Kaum zu glauben, dass hier noch Züge halten. Überhaupt ist es schwer zu begreifen: vor einhundert Jahren drängelte sich die moderne Welt in die letzten ländlichen Winkel und fragte nicht nach, ob sie willkommen war. Entlegenste Regionen wurden an das Netz der Bahnen und Telefone angeschlossen, alles wurde elektrifiziert, die ganze Landschaft verdrahtet, überall wurden Postämter gegründet, Briefkästen aufgestellt und Arztpraxen aufgemacht. Die allgemeine Schulpflicht wurde eingeführt, in jedem zweiten Dorf eröffnete eine kleine Schule und noch im letzten Winkel gab es einen Dorfpolizisten. Der Staat sorgte dafür, dass überall die gleichen Spielregeln herrschten und er tat dies in wohlverstandenem Eigeninteresse – nur so war gewährleistet, dass die ganze Gesellschaft auf Dauer auch funktionierte. Die Infrastruktur hatte nicht nur ökonomische Funktionen, sie brachte auch die Zivilgesellschaft in die letzten Winkel des ländlichen Deutschlands. Sie trug dazu bei, dass sich Menschen aus dem Bayerischen Wald, der Wetterau und dem Oderbruch auf ein Minimum an gemeinsamen Erfahrungen und Werten verständigen konnten.
Mit dieser gesellschaftlichen Mission der Infrastruktur ist es vorbei, diese Aufgabe übernehmen, wenn überhaupt: der Sozialstaat, der die Menschen alimentiert – und die Medien, die sie am großen Ganzen teilhaben lassen. Sozialamt und Fernseher ersetzen die klassischen Institutionen: Die Post wird zu einer Schalter bei Mac Paper, das Postamt steht leer, die Schulen werden überwiegend geschlossen und, sofern sie Bestand haben, seit fünfzehn Jahren wie ein lästiges Problem behandelt und nicht wie eine Errungenschaft – die unselige Pisa-Debatte hat diesen Trend sogar verstärkt statt ihn umzukehren.
Und nun also, um es etwas pathetisch zu sagen, der vorerst zweite Tod des Bahnhofs. Es war, so scheint es, ohnehin nur noch eine Frage der Zeit. Aber wir sind ja heute für eine Ausstellung hergekommen, für eine Vernissage, die zugleich eine Finissage ist, und nicht für eine Auseinandersetzung mit dem Rückzug des Staates aus der ländlichen Infrastruktur.
Und doch, so scheint mir, hat das eine mit dem anderen zu tun. Denn es verabschiedet sich keine private Verkaufsgalerie sondern eine Einrichtung in Trägerschaft des Bad Freienwalder Vereins zur Förderung von Beschäftigung und Qualifizierung, einer Organisation also, die es wahrscheinlich gar nicht geben würde, wenn der Bahnhof als Bahnhof noch in Betrieb wäre und mit ihm all die erwähnten anderen Häuser auch – wenn also der Prozess, der hinter diesen ganzen Schließungen und Entlassungen steht, nicht stattfände.
Der Verein hat sich ja eben zur Aufgabe gemacht, diesen ganzen Niedergang ein wenig auf- und abzufangen, ein paar neue Ideen in dieses Meer an Ratlosigkeit zu spülen, Chancen zu öffnen, neue Arbeitsfelder zu erschließen und dabei allen, die aussortiert wurden und sich überflüssig vorkommen, ein bisschen Mut zu machen. Aus diesem Auftrag heraus hatte er ein Interesse, 1999 die Idee von Künstlern aus der Region aufzugreifen und eine Galerie zu eröffnen, übrigens, als die Wahl schließlich nach Umwegen auf den Bahnhof fiel, sehr zur Freude der Bahn, die einen riesigen Fundus funktionsloser Gebäude zu verwalten hat und täglich erlebt, dass Immobilien mit dem Wegfall einer Nutzung auf Dauer kaum zu halten sind. So viele Wachservices kann man gar nicht bezahlen, wie man bräuchte, um dem Verfall wirksam gegenzusteuern. Folgerichtig kamen in den ersten Jahren auch immer Vertreter der Bahn zu den Vernissagen. In den ersten Jahren, wohlgemerkt – aller Anfang ist leicht, könnte man heute sagen.
Die Idee einer kleinen Kunstgalerie im Kurstädtchen nimmt sich nett aus, aber es steckte durchaus mehr dahinter, als nur ein hübsches Ornament für den beschaulichen Kurbetrieb zu formen, das obendrein einigen Menschen eine ABM bietet. Im Oderbruch haben die bildenden Künstler eine überproportionale Präsenz, die Einrichtung sollte dieses relativ große Potenzial bündeln und für die Stadt und die Region verfügbar machen. Dies sollte den Künstlern eine gewisse Öffentlichkeit und Repräsentanz verschaffen, war aber zugleich auf einen Dialog mit den Leuten in der Gegend angelegt. Thematische Ausstellungen sollten die Auseinandersetzung mit brisanten Fragen wie Krieg, Europa oder Landschaftszerschneidung anregen. Es gab auch einen gewissen pädagogischen Ansatz – jährlich wurden einzelne Techniken wie Aquarellmalerei, Radierung und Druck eingehender vorgestellt. Personalausstellungen sollten nach und nach einzelnen Künstlern die Chance geben, sich der lokalen Öffentlichkeit zu präsentieren. Ein guter Mix aus verschiedenen Ausstellungsformen, zusammengeführt an einem Ort, der eine kreative Besetzung geradezu herausfordert – nach der Öffentlichkeit des Schienenverkehrs nun die Öffentlichkeit der Künste.
Die Kunst geht aus den Ateliers dorthin, wo Menschen sind, und Menschen sind ja in einem Bahnhof zu erwarten. Die Idee war auch aus einem anderen Grunde attraktiv – immerhin bilden die Künstler eine soziale Gruppe, die in so einer Gegend, die gerade von vielen verlassen wird, von der Zukunft erzählen kann. Das, woran es im Augenblick am meisten mangelt, sind Berichte aus der Zukunft, mit denen jemand etwas anfangen kann. Ich meine das gar nicht besonders philosophisch, eher soziologisch, nämlich, dass die Künstler zu den neuen Siedlern in der verlassenen Landschaft zählen – sie können also mit einem Land etwas anfangen, mit dem andere offenbar nichts mehr anfangen können.
Zugegeben, einige sind schon eine ganze Weile da, aber wenn man sich einmal anschaut, wohin sie gegangen sind, dann haben sie sich genau jene Orte ausgesucht und sind in genau jene Gehöfte gezogen, die zuerst von den älteren Nutzern verlassen wurden. Sie sind also die Nachnutzer der freigesetzten Landschaft, die neuen Pioniere, und sie schauen die Welt auch so an. Was andere als Verlassenheit wahrnehmen, begrüßen sie freudig als wunderbare Ruhe für ästhetische Produktion, wo manche traurig verfallende Gehöfte sehen, erblicken sie Freiheit und morbiden Charme, wo viele das Zerbrechen der traditionellen Sozialstrukturen beklagen, nutzen sie längst die dadurch frei werdenden Spielräume für ein Leben auf dem Land ohne die lästigen Sozialkontrollen.
Ein Bahnhof, der für andere nach Endstation aussieht (obwohl er dieser hier ja wirklich keine ist) kann für die Künstler eine interessante Herausforderung sein, gerade, weil er so abgelegen ist. Diese Eigenschaften, verbunden mit einer ausgebildeten ästhetischen Kompetenz sollten doch Künstler zu den idealen Akteuren in so einem Prozess machen, wie er mit der Galerie zumindest initiiert werden sollte.
Ganz so ideal ist die Lage indes nicht, wie einige der heute anwesenden Künstler sicherlich schon bei sich gedacht haben werden. Denn selbst wenn Künstler tatsächlich Pioniere dieser neue Besiedlung der Landschaft sind, so heißt dies noch lange nicht, dass die Kommunikationen zwischen ihnen als einer neuen Gruppe und jenen, die gerade irritiert auf diese Landschaft blicken, weil sie von dieser nicht mehr leben können, besonders günstig verlaufen muss.
Ich kann mich noch an meine ersten Begegnungen mit meinen Nachbarn auf dem Oderbruchacker erinnern, in denen keiner von uns beiden wusste, ob er sich durch den anderen nicht eigentlich verlacht fühlen sollte – die Einheimischen, die es absurd fanden, dass ich in diese Gegend kam, in der gerade alle die Koffer packten, und die sich nicht vorstellen konnte, dass ich es mit seriösen Absichten tat – und ich, der ich nicht begreifen konnte, dass sie genau dies mir absprachen. „Wat willste denn hier, dit wird do allet nüscht, dit Haus fressen Dir do de Wespen uff!“ – so empfing mich mein Nachbar, laut und spöttisch, und das war zumindest ein eigenwilliger Willkommensgruß. Gerade dieser Unterschied der Perspektiven bildet also auch ein trennendes Moment zwischen diesen beiden Gruppen. Frau Kiekeben, die sich jahrelang um diese Einrichtung gekümmert hat, hat es neulich treffend beschrieben: „Künstler und so ein Beschäftigungsverein – das passt irgendwie nicht zusammen.“
Versuche, die Interessenten, Sponsoren und Künstler ein wenig zusammen zu bringen, haben nicht so recht funktioniert. „Wir haben solche Künstlertreffen organisiert“ erinnert sich Frau Kiekeben, „aber am Ende saß doch wieder jeder in seiner Ecke. Und überhaupt, Künstler sind Individualisten, die lassen sich nicht organisieren.“ Hinzu kam ein ungleiches Verhältnis in den Kompetenzen bei einer Galeriebetreuung – eine Galerie ist ein ästhetisches Geschäft, für alles, von der Platzierung der Objekte bis zur Produktion von Einladungsflyern und der Gestaltung der Vernissagen braucht man die selbstbewusste ästhetische Kompetenz der Künstler. Man könnte sich vorstellen, dass die Mitarbeiter des Vereins unter der permanenten Unsicherheit, die die Betreuung der Galerie ihnen verursacht haben mag, ein bisschen gelitten haben. Nun haben sich die Künstler ja auch eingebracht und versucht, diesem Dilemma dadurch abzuhelfen, etwa im eigens eingerichteten Galeriebeirat. Am wichtigsten scheint den Akteuren vom Verein heute die kontinuierliche und vertrauensvolle Zusammenarbeit mit Christine Hielscher und Dietrich Jacobs – die ganze Zeit über seien sie zuverlässige Partner gewesen, resümiert Frau Kiekeben, die sich auch nicht von den Höhen und Tiefen der Galerieentwicklung beeinflussen ließen.
Nun hat aber die Wahrnehmung der Künstler als hart gesottene Pioniere zwar einen wahren Kern, sie verklärt aber auch ein bisschen die herben Existenzsorgen vieler Künstler im Oderbruch. Der Autor und Architekturkritiker Wolfgang Kil hat diese Rolle neulich in seinem Buch „Luxus der Leere“ sehr schön beschreiben. Künstler, so sagt er, werden in so einer Region unbedingt gebraucht, weil sie das landschaftliche Sterben schöpferisch begleiten und damit würdevoll machen, nur so wird ein neues Leben in diesen Landschaften möglich. Sie kommen besser mit prekären Lebensverhältnissen zurecht, können Kurzfristigkeit und Unsicherheit aushalten und haben meistens soviel Bildungskapital, dass sie auch in den armen Gegenden nicht untergehen, sondern stattdessen aus den Bruchstücken der untergehenden Welt etwas Neues bauen können. Das stimmt zwar, aber ob man das als Künstler, der sich auf so eine Landschaft ohne wenn und aber eingelassen hat, nach mehreren Jahrzehnten auch noch so sieht, ist die Frage. Wer nicht seine warme Wohnung und Professur in Berlin hat, wird in den letzten Jahren auch schon vom harten Brot der Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen gekostet haben oder andere, nicht weniger dornige Pfade beschritten haben. Dann hat man beides – das Missverständnis mit der lokalen Bevölkerung und die gleiche wirtschaftliche Misere wie diese.
Denn eines hat wohl keiner erwartet – und es ist auch nicht eingetreten: dass die Galerie die Geldbörsen der lokalen Künstler nennenswert anschwellen lässt. Es ist schon so, dass sich zumindest einige der Künstler, die ins Oderbruch gegangen sind, damit auch für ein Leben in materieller Armut entschieden haben. Das kann mit zwanzig, dreißig ganz romantisch sein, mit vierzig, fünfzig fängt es an, an den Kräften zu zehren. Dann findet man es vielleicht auch nicht mehr so ganz treffend, wenn die Freunde aus der Stadt einen um die Abgeschiedenheit und Ruhe beneiden, bevor sie mit ihrem neuen Auto vom Hof rollen. Damit hätten wir eine soziale Lücke benannt, in der sich die Galerie am Bahnhof befand – jene zwischen den Künstlern und den Menschen in der Region im Allgemeinen und jene zwischen den Künstlern und den im Beschäftigungsverein tätigen Menschen im Besonderen.
Manchmal, so scheint es, hat die Galerie diese Lücke auch zu schließen vermocht. Wahrscheinlich ist das auf Dauer gar nicht möglich, aber die gelungenen Ausstellungen, die intensiven und offenen Momente gegenseitigen Austauschs und Interesses hat es doch gegeben und es würde die Sache verzerren, wenn man heute, vom Ende aus, die ganzen Jahre über einen Kamm des Scheiterns scheren wollte. Nein, soweit ich es sehe, war es ein ernsthafter Versuch, und er hat auch Früchte getragen. Man sehe nur einmal auf die verschiedenen Ausstellungseröffnungen und von wem sie ausgestaltet und bestritten worden sind: von den hiesigen Musikschulen bis zum „Offi“, von den Stephanuswerkstätten, von Laienkünstlern bis hin zu Berliner Professoren und nicht zuletzt von den Künstlern selbst – all diese verschiedenen Gruppen haben auf die Einladung der Galeristen ihren Weg hierher gefunden.
Es gibt aber auch eine inhaltliche, eine ästhetisch-programmatische Lücke in so einem Verhältnis von Kunst und Landschaft, die ebenso schwer zu schließen ist. Denn es ist nicht jedes Künstlers Sache, sich mit dieser Landschaft und ihren Problemen überhaupt auseinanderzusetzen. In erster Linie ist sie Produktionsraum, billige Arbeitsfläche, attraktives, herbes oder liebliches Umfeld – so, wie ich das oben beschrieben habe: die Landschaft bietet ausreichend Abgeschiedenheit für einen künstlerischen Prozess. Aber ist sie auch selbst Arbeitsgegenstand? Manche arbeiten lieber an globalen Themen, denken über Krieg und Frieden nach, über Frauen, Männer und ihre gleichen gesellschaftlichen Rechte, über die Umwelt und die Natur im Allgemeinen. Das ist ihr gutes Recht und es sind auch alles sinnvolle und wichtige Themen.
Trotzdem, so empfinde ich es, bestünde hier Spielraum für Kunst in Regionen wie dieser. Die Kulturstaatsministerin soll gesagt haben, Künstler seien Seismografen unserer Gesellschaft, aber sind sie auch Seismografen der eigenen Landschaft? Der Weg zum lokalen Publikum muss nicht zwangsläufig durch den einfältigen Geschmack gehen. Sicher, oftmals haben die Leute hier gestanden und sich gefragt, warum das eigentlich nicht schön ist, was sie da zu sehen bekamen. Nun, das Fass wollen wir heute nicht aufmachen, da verirren wir uns, selbst in der kleinsten Galerie. Aber an den Objekten selbst, an der Auseinandersetzung mit den Orten, die auch für eine arbeitslose Melkerin eine mentale Bedeutung tragen, lässt sich doch eine Auseinandersetzung auslösen. Dafür müsste man sie allerdings fragen, welche Orte das sind, und was sie ihr bedeuten. In dem Film „Rivers and Tides“ über den Landart-Künstler Andy Goldsworthy gibt es eine Szene in der ein einheimischer alter Mann an einer Pyramide aufgeschichteten Treibholzes vorbeikommt, die jener eben gebaut hatte, und mit ihm in eine Diskussion gerät. Was das hier werde? Nun, er warte auf die Flut, antwortet der Künstler, dass sie das Holz mitnehme, und dann ist er auf die Strukturen gespannt, die sich dabei bilden. Ja, genau, antwortet der Mann verblüffender Weise, das sieht immer ganz fantastisch aus! Er versteht genau, was der Künstler will. Solche Momente gibt es viel zu selten, auch jene, in denen nicht die Leute die Künstler sondern die Künstler die Leute etwas fragen. Was die verschiedenen Orte für eine lokale Bedeutung haben? Wie es hier früher aussah? Wer in den Häusern gelebt hat? Was es für ein Gefühl ist, täglich an leer stehenden Ställen vorbei zu gehen, in denen man einst hart gearbeitet hat?
Die Rationalisierung der Arbeit birgt für die Betroffenen eine irrationale Erfahrung: die große Härten der körperlichen Arbeit, unbarmherzig und oftmals lebenslang, werden durch die Maschinen nur kurzzeitig gemildert. Denn bald fällt ja die Arbeit selbst weg – erst ist man einem gnadenlosen Zwang des Sich-Schindens ausgesetzt und über Nacht entfällt dieser Zwang und man wird überflüssig. Industriearbeiter in Stahl und Kohle haben diese Erfahrung auch gemacht und im ländlichen Raum ist sie sehr verbreitet. Noch sieht man Menschen, deren Hände davon erzählen, was ihnen dieses Land einst abverlangt hat. Und heute verlangt es ihnen gar nichts mehr ab – höchstens, zu gehen. Auch davon erzählen die zerfallenden Gehöfte, die wuchernden alten Kopfweiden, die schmucklosen Funktionsbauten der alten LPG, die Reste der Zuckerfabriken, der Ziegel- und Schamottwerke, Korbmanufakturen und Milchhöfe.
Und bald ist die Erinnerung ausgelöscht, so dass die Bewohner ihre eigene Landschaft nicht mehr lesen können. Das ist ein Bereich, in dem Kunst sehr zupackend sein kann, auch für die lokale Bevölkerung. An beiden Schnittstellen – am Zusammentreffen der Künstler mit der lokalen Bevölkerung wie auch am Aufeinandertreffen ihrer verschiedenen ästhetischen Erfahrungen – hat die Galerie am Bahnhof also Möglichkeiten geöffnet und Chancen gewiesen. Dass es noch in diesem Jahr vielleicht eine entsprechende Nachnutzung oder Wiederbelebung der Galerie am Bahnhof geben wird, die ihren Arbeitsschwerpunkt genau in dieser lokalen Verankerung sucht und diese Punkte sogar noch stärker programmatisch betonen will, wirft, so finde ich, ein ganz gutes Licht auf die Arbeit der letzten Jahre – offenbar ist der Standort doch eingeführt, hat seine eigene kleine Tradition und Geltung erreicht, so dass es sinnvoll erscheint, unter geänderten Vorzeichen und in einer anderen Trägerschaft daran anzuknüpfen.
Meine Damen und Herren, in diesem Sinne wünsche ich Ihnen viel Vergnügen in dieser Ausstellung, überwiegend freundliche Erinnerungen an die letzten Jahre und Mut zu neuen Schritten in die Richtung, in die sie gegangen sind.
Kenneth Anders