Eine Landschaft auf der Bühne: Das Oderbruch – Gemüsegarten Berlins und Paradies für Raumpioniere

Mir Aktuell Vierteljahresschrift 1/2009

Dr. Kenneth Anders, Lars Fischer und Andreas Röhring

Eine schwere Kolonie

Das Oderbruch ist keine gewöhnliche Provinz. Die Landschaft in ihrer heutigen Form ist ein Werk der preußischen Staatsverwaltung. Vor über 250 Jahren initiierte Friedrich II. ihre Trockenlegung und Besiedelung, so dass sie zum heute größten eingedeichten Flusspolder Deutschlands wurde. Das Oderbruch entwickelte sich zu einem wichtigen Versorger mit landwirtschaftlichen Produkten und galt seit Beginn des 20. Jahrhunderts als der „Gemüsegarten Berlins“.

Politische Abhängigkeit und wirtschaftliche Bedeutung – zwischen diesen beiden Polen hat sich das Leben im Oderbruch entfaltet. Die politische Abhängigkeit ist geblieben, denn ohne staatliche Hilfe lässt sich das Wasserregime nicht aufrechterhalten. Die wirtschaftliche Bedeutung aber hat sich in den letzten Jahren rapide verändert. Was soll also werden?

Eine Landschaft auf der Bühne
Wasser auf dem Feld – trotz der Schöpfwerke sind die Bedingungen für die Landwirtschaft schwierig geblieben. Foto: Büro für Landschaftskommunikation

„Wenn ich mich frage, wie es hier mit uns weiter geht, sehe ich manchmal nach Holland. Die Holländer haben eine Schwäche für uns. Ein Holländerenkel hat hier entwässert, ein Holländer hat Gemüse angebaut, jetzt sind auch wieder Holländer da und machen Feldbau. In Holland haben sie in den letzten Jahren Teile ihres gewonnenen Marschlandes aufgegeben und es dem Meer und der Wildnis überlassen. Hoffentlich kommen sie hier nicht auch auf die Idee.“

Könnte es sein, dass der Staat seine spezielle Provinz doch einmal in die Selbstverantwortung entlassen möchte? Die Oderbrücher bangen jedenfalls, dass ihnen die besondere Schirmherrschaft entzogen wird. Mitten in dieser tiefen Orientierungskrise könnte eine besondere Eigenschaft des Oderbruchs an Bedeutung gewinnen. Denn immer wieder wird es das Ziel von neuen Siedlern, die Freiräume erschließen und von denen innovative Impulse für die Entwicklung der Kulturlandschaft ausgehen. Die Kolonisten des 18. Jahrhunderts, die Gewerbetreibenden des 19. Jahrhunderts und die Raumpioniere des 20. Jahrhunderts – vielleicht sind sie sich am Ende ähnlicher, als es auf den ersten Blick scheint?

„Es kamen nicht nur Bauern mit Geld und Geschick, es kamen auch Menschen, die nichts hatten und dieses Nichts auf eine Karte setzten: auf ihr Leben. Vielleicht konnten sie etwas, dann gründeten sie eine Korbflechterei oder eine kleine Holzschuhfabrik oder sie machten ein Geschäft auf. Diese Leute waren emsig und erfinderisch. Alles, was sie hatten, war die Erlaubnis, ihre Ziele zu verfolgen. Heute redet man von Raumpionieren und meint damit die Künstler und die Leute, die mit dem Leben experimentieren, aber ins Oderbruch sind seit 1750 eigentlich nur Raumpioniere gekommen. Auch die Kossäthen und Büdner, die Handwerker und Händler waren so. Hier gab und gibt es die Freiheit umsonst!“

Eine Landschaft auf der Bühne
Unverkennbarer Stolz – Eine Bauernfamilie in Letschin posiert vor dem eigenen Hof. Foto: Heimatstube Letschin.

Drei Perspektiven auf die Landschaft – jene der Regierung, jene der heimisch gewordenen Kolonisten und jene der Raumpioniere. Über Jahrhunderte haben diese Parteien miteinander gerungen und so das Oderbruch, zu dem gemacht, was es heute ist. Wie lässt sich ein solches Spannungsfeld in einer guten Stunde anschaulich machen?

„Die schwere Kolonie“ ist eine Theatercollage: Ereignisse, Dokumente und biographische Episoden aus Vergangenheit und Gegenwart der 250 jährigen Entwicklung einer Kulturlandschaft werden miteinander konfrontiert, alte und neue Fotos öffnen einen historischen Assoziationsraum, Originalsounds aus der Landschaft greifen in das Geschehen ein. Und alles ist durch eine dramaturgische Grundidee miteinander verknüpft.

Die dramaturgische Grundidee

Oderbruch 2022 – zum 275. Jahrestag der Trockenlegung stehen Feierlichkeiten ins Haus. Politische Prominenz wird erwartet, wichtige Reden sollen gehalten werden. Aber wer soll sie schreiben?

Eine Landschaft auf der Bühne
Zwei Reden über Vergangenheit und Zukunft des Oderbruchs gilt es zu schreiben &ndash vor den Augen der Zuschauer entsteht ein landschaftsgeschichtliches Panorama. Foto: Sven Wallrath

In der Berlin-Brandenburgischen Staatskanzlei muss ein lang gedienter Referent die richtigen Worte finden: Karl-Friedrich Koenig. Er stammt aus dem Oderbruch, er kennt die Sorgen und Hoffnungen der Provinz. Aber er darf nicht zuviel versprechen. Die Rede seines Ministerpräsidenten soll den Oderbrüchern schonend klar machen, dass sie ihre Landschaft selbst in die Hand nehmen müssen. So etwas zu sagen, ohne jemandem weh zu tun, ist nicht leicht.

Auch die Oderbrücher wollen sich äußern. Hier beauftragt man den Spross einer alten Kolonistenfamilie mit der schweren Bürde – Marcel Bruchmüller. Er soll die richtigen Worte finden, wenn es darum geht, die Sorgen und Nöte in der Provinz zu schildern und den Staat an seine besondere Verantwortung gegenüber dem Oderbruch zu erinnern. Auch ihm fällt die Aufgabe schwer. Statt einer geschliffenen Rede erfährt das Publikum, wie mühsam die Kolonisten in knapp drei Jahrhunderten versucht haben, ihr Leben in Sicherheit und Selbstbestimmung zu führen.

Die möglichen Überlegungen und Abwägungen, auch die Frustrationen und Hoffnungen der beiden Redenschreiber werden von einem Sprecher paraphrasiert. So entfalten sich leidenschaftliche Positionen zur Landschaft, welche die Nöte der jeweils anderen Seite nur allzu gut kennen und doch durch ihren Auftrag gebunden sind. Die historischen Zitate werden in Stummfilmmanier eingeblendet. Graustufig zurückgesetzte Fotos, in denen einzelne Elemente farbig hervorgehoben sind, visualisieren das Oderbruch als eine Landschaft voller Geschichte und Widersprüche. Eine Geräuschkulisse macht den Maschinenlärm der Trecker, der Krautungsmaschinen an den Wassergräben und der Hubschrauber im Katastrophenfall, aber auch den scheppernden Gesang der Grauammer erlebbar. Vor diesem Geschehen muss die politische Rhetorik verstummen: Hinhören, Hinsehen.

Impulse für die Auseinandersetzung mit der Kulturlandschaft

Eine Landschaft auf der Bühne
Trecker Marke Eigenbau – im Oderbruch gibt es viele Menschen, die improvisieren können. Foto: Büro für Landschaftskommunikation

Im Rahmen von Kulturland Brandenburg 2008 wurde die Collage im Theater am Rand Zollbrücke, in der Kirche Neutornow und im Gasthaus „So oder So“ Wilhelmsaue im Oderbruch sowie in Chorin aufgeführt. Die mit der Collage erprobte innovative Kommunikationsform hat den im Oderbruch stattfindenden Debatten über die Entwicklung der Kulturlandschaft neue Impulse gegeben. Mit den Begriffen „Gemüsegarten“ und „Raumpioniere“ macht sie das extreme Spannungsfeld deutlich, in dem sich die Kulturlandschaftsentwicklung heute vollzieht. Sie sind gleichzeitig Synonyme für vielfältige andere Prozesse einer bodenständigen traditionellen Landnutzung und der Suche nach neuen Freiräumen. Sie stehen auch für spezifische Dimensionen der Beziehungen zwischen Metropole und Provinz.

Für die künftige Entwicklung der charakteristischen Kulturlandschaft des Oderbruchs im Sinne des von der Gemeinsamen Landesplanung für Berlin und Brandenburg verfolgten handlungsräumlichen Ansatzes, Kulturlandschaften als regionales Entwicklungspotenzial zu erschließen, leiten sich daraus folgende Fragestellungen ab:

  • ob das Oderbruch als Raumpionierlandschaft tatsächlich ein Paradies ist und wie die Entfaltungsmöglichkeiten für das damit verbundene kreative und innovative Potenzial verbessert werden können,
  • welche Tragfähigkeit das Image des Oderbruchs als Gemüsegarten Berlins, durch die Vermarktung regionaler Produkte und durch seine spezifische landschaftliche Prägung heute hat und wie es für die künftige Kulturlandschaftsentwicklung weiter profiliert werden könnte und
  • wie die Potenziale des Gemüsegartens und der Raumpionierinitiativen wirksamer verflochten werden können, um das Oderbruch als eigenständigen kulturlandschaftlichen Handlungsraum, der überregional und grenzübergreifend mit Metropole und Provinz vernetzt ist, weiter zu profilieren.
Eine Landschaft auf der Bühne
Singende Kolonisten im Oderbruch – vor allem preisen sie die Trockenlegung unter Friedrich II. Foto: Büro für Landschaftskommunikation

Diese anhand des Oderbruchs exemplarisch thematisierten Problemstellungen der Kulturlandschaftsentwicklung, die hier in starker Ausprägung deutlich werden, sind in modifizierter Form auch in anderen Kulturlandschaften vorhanden. Dazu gehören die Abhängigkeiten von staatlichen Entscheidungen, die Einflüsse zentraler Regelungen und ökonomische Anreize, die Nutzung der Spielräume für selbstbestimmtes Handeln sowie das Spannungsverhältnis zwischen Pfadabhängigkeiten und Innovation. Deshalb kann die Collage auch für andere Kulturlandschaften, die sich über Vergangenheit und Zukunft verständigen wollen, Anregungen und Impulse vermitteln. Neben den für 2009 bereits geplanten Aufführungen können weitere auch außerhalb des Oderbruchs angeboten werden. Im Anschluss an die ca. 75-minütigen Aufführungen ist Raum für Gespräche.

Das Projekt wurde im Rahmen von Kulturland Brandenburg 2008 durch das Leibniz-Institut für Regionalentwicklung und Strukturplanung (IRS), das Büro für Landschaftskommunikation und das KammerMusikTheater realisiert, die Sounds wurden von Almut Undisz und Sebastian Undisz aufbereitet. Der Text der Collage ist nachzulesen auf: www.oderbruchpavillon.de

September 2008