Kolonisten gesucht!
Gespräch mit dem Ortsbügermeister Horst Wilke im Gemeindezentrum von Neulietzegörike
Biografisches:
Horst Wilke, Jahrgang 52, ist Ortsbürgermeister von Neulietzegöricke, dem ältesten Kolonistendorf im Oderbruch, ehrenamtlicher Bürgermeister von Neulewin und Vorsitzender des Amtsausschusses des Amtes Barnim-Oderbruch.
Er arbeitet bei der Deutschen Bahn AG auf dem Stellwerk des Bahnhofs in Wriezen. Horst Wilke ist verheiratet und Vater von drei Kindern.
Geboren und aufgewachsen ist Wilke in Neureetz. Genauer gesagt in Adlig Reetz, jenem Teil des Kolonistendorfes, der auf adligem Grund gebaut und zu DDR Zeiten Ernst-Thälmann-Straße genannt wurde und heute nicht nur seiner Vorgärten wegen unter Denkmalschutz steht.1977 zog er nach Neulietzegöricke, dessen Dorfanlage ein Jahr zuvor unter Denkmalschutz gestellt worden war.
Hier stand ein altes Fachwerkhaus leer, das Wilke, der nach seiner Lehre bei der Deutschen Reichsbahn als Weichenwärter, Aufsichter und Fahrdienstleiter auf dem Wriezener Bahnhof arbeitete, von der Gemeinde mieten und für seine Familie ausbauen konnte. Später kaufte er das Haus, das heute, wie viele andere im Dorf, unter Denkmalschutz steht, und ist seitdem glücklicher Eigentümer. Die Kinder haben auf dem Hof ihre eigenen Ecken, er sein Stück Land. Überhaupt scheint der Denkmalschutz die Klammer zu sein, die das Leben und Arbeiten Wilkes zusammenhält; sein Arbeitsplatz, das Stellwerk auf dem Bahnhof in Wriezen, soll auch als ein technisches Denkmal ausgewiesen und erhalten werden.
Zu DDR-Zeiten betrieb er nebenberuflich eine kleine Landwirtschaft um etwas dazu zuverdienen, machte Gurken, hielt Vieh im Stall. Es gab immer etwas zu tun. Die „Hundeecken“ im Dorf nutzte er, um Heu fürs Vieh zu machen. Mit der Sense mähte er um Kirche, Schule und Kita herum das Gras. Flächen, die die LPGisten nicht nehmen mochten. Die hatten für sich die besten Stücke, das Gras auf den Wiesen an den Oderdämmen reserviert. Unbewusst setzte er die Tradition fort, jede Ecke im Dorf für die eigene Wirtschaft zu nutzen. Die Arbeit mit der Sense war für Horst Wilke auch körperlicher Ausgleich. Da konnte man mal so richtig durchschwitzen. Und nebenbei wurden die öffentlichen Anlagen sauber gehalten. Alte Bauern gaben ihm Tipps, wenn sie sahen wie er sich mühte. Als er sein Gras, das er im Schachtgraben des Dorfes gemäht hatte, wegen eines sehr feuchten Sommers nicht trocken bekam, schenkte ihm einer seine alten Reuter – Holzgestänge über die das angewelkte Gras gehängt wird, so dass der Wind durchstreifen und es trocknen kann.
Heute ist der Schachtgraben zum größten Teil zu einer Grünanlage geworden. Die sinnvolle wirtschaftliche Nutzung der Natur im Dorf gibt es heute nicht mehr. Dafür kostet die Pflege der Grünanlagen der Gemeinde Geld. Wilke macht noch immer ein wenig Landwirtschaft, baut Kartoffeln und Futterrüben an, pflegt seine Obstbäume. Geldverdienst spielt jetzt dabei keine Rolle mehr. Und da er kein Vieh mehr hält, gehen die Überschüsse an den Schulzoo in Altreetz.
Der Bürgermeister
Das Ehrenamt des Bürgermeisters übernahm Wilke 1990. Zuvor war er bereits als Wehrleiter der freiwilligen Feuerwehr ein Teil des öffentlichen Lebens im Dorf. Das erleichterte ihm den unbürokratischen Kontakt zu den Dörflern, der sich nicht in der Amtsstube sondern in der Kneipe „Zum Feuchten Willi“ und beim Plausch auf der Dorfstraße herstellt.
Ein Dorf muss betreut werden und das kostet Zeit, auch wenn im Dorf „nur“ 230 Einwohner leben. Hinzu kommt, dass Wilke nach der Brandenburger Gemeindegebietsreform auch die Wahl zum Bürgermeister der neuen Großgemeinde Neulewin gewann, zu der neben Neulietzegöricke auch das größere Neulewin und das kleine Güstebieser Loose gehören. Man hat sich 2001 freiwillig für den Zusammenschluss entschieden, was nicht überall der Fall war. Aber das brachte eine Geldprämie vom Land und letztendlich wäre die Reform auch nicht zu verhindern gewesen. Natürlich gab es Vorbehalte, die erst mit der Zeit gefallen sind; wer gibt schon gerne seine Selbstständigkeit auf. Für die kleinen Dörfer hat es sich jedenfalls gelohnt. Sie partizipieren vom Zugriff auf die Ressourcen der großen und man kann auch schneller reagieren, wenn’s brennt.
Die Schichtarbeit auf dem Stellwerk in Wriezen ist eine günstige Konstellation für die ehrenamtliche Funktion. Da hat man auch mal unter der Woche Zeit, die Dinge fürs Dorf voranzutreiben. Dabei denkt Wilke nicht an den bürokratischen Aufwand, den er zu erledigen hat: die Koordination der ABM-Stellen, ohne die das Dorf nicht wäre, was es ist und die die Gemeinde zum großen Arbeitgeber im Dorf gemacht hat oder das Schreiben von Förderanträgen, um an das Geld vom Land zu kommen, ohne das der Erhalt der denkmalgeschützten Dorfanlagen nicht zu bewerkstelligen ist.
Nein, er braucht die Zeit, um das Engagement der Dörfler für ihre Heimat nicht versiegen zu lassen und Partner für die Umsetzung kleiner aber wichtiger Projekte zu gewinnen: Kinderfeste, Oldtimertreffen, die Umgestaltung der alten Mülldeponie am Dorfrand zu einem Rodelberg für die Kinder, der Bau einer Grill- und Ausschankhütte, das Pflanzen von Bäumen, der Bau des Spielplatzes… Und einmalige Höhepunkte wie der Festumzug zur 250 Jahrfeier des Dorfes, zu dem Tausende ins Dorf kamen, brauchen viel Zeit zur Vorbereitung und motivierte Helfer.
Der Rodelberg bei Neulietzegöricke.* / Die ehemalige Dorfmüllkippe wurde abgedeckt, bepflanzt und dient heute als Fest-und Spielplatz.* / Und im Winter lässt es sich für die Kinder hier besser rodeln als am Schachtgraben.*
Der Festumzug zur 250 Jahrfeier im August 2003 zog viele Besucher ins Dorf.*
Von der Landwirtschaft und der Industrie erwartet der Bürgermeister keine weiteren Impulse für die Entwicklung des Oderbruchs. Wilke setzt auf den Tourismus, den einzigen Wirtschaftszweig mit Steigerungsraten. Attraktive Freizeitangebote und die entsprechende Infrastruktur zu entwickeln, dafür müssen die Gemeinden stehen. Erste Anfänge wie der Oder-Neiße-Radwanderweg sind bereits gemacht. Was fehlt, ist die Anbindung des Hinterlandes und angenehme Verbindungen zwischen den Dörfern. Der landwirtschaftliche Wegebau könnte hier genutzt werden, zum Vorteil beider. Die Oderhänge auf der polnischen Seite, die Wälder dort, der Moriner See – all das ist ein Potential, das genutzt werden sollte.
Eine Fähre bei Güstebiese
Um die notwenigen Beziehungen zu den Polen auszubauen, wäre eine Fährverbindung bei Güstebiese der erste Schritt. Zwischen Hohenwutzen und Küstrin kommt man nirgends über die Oder. Die Leute müssen lange fahren und die Region erst wieder verlassen, um die Landschaft auf der anderen Seite zu genießen. Eine Fähre, die Platz für Radfahrer und für 6 bis 10 Pkw bietet, würde sich zumindest in den Sommermonaten für die polnischen wie für die deutschen Gemeinden rechnen. Da ist sich Wilke sicher. Um den Bedarf, für den Aufbau einer ständigen Fährverbindung, gegenüber dem Land zu dokumentieren, organisierte der Ortsteil Güstebieser Loose zusammen mit dem Technischen Hilfswerk und der Gemeinde ein Fährfest. Auf diesem 1. Oder-Fähr-Fest konnten rund 2000 Besucher den Bedarf an einer Fähre über die Oder dokumentieren.
So ein Fluss zieht die Leute an. Güstebiese, heute Godzowice, war früher einmal Luftkurort. Die Dörfer an der Oder hatten alle ihren Reiz und eine komplette Infrastruktur mit Kneipe, Fleischer, Schneider, Kolonialwarenladen, Stellmacher etc. In den 60er Jahren, mit den LPG- und PGH-Gründungen, ist das alles nach und nach weggebrochen. Vor dem Krieg ging es ungehindert über die Oder; Bauern aus Altlietzegöricke, dem heutigen Stare Lysogórki, wirtschafteten auf Schlägen im Bruch, was immer wieder auch zu Konflikten mit den Kolonisten führte. 1945 wurden die Verbindungen abrupt gelöst. Viele, die weg mussten, haben versucht, in der Nähe zu bleiben, saßen hin und wieder auf dem Deich und trauerten dem Verlorenen nach. Die Zeit kann nicht wieder zurückgedreht werden und die weggebrochene Infrastruktur wird wohl auch nicht mehr komplett wieder auferstehen. Eine Fährverbindung würde für beide Seiten einen Weg in die Zukunft öffnen.
Bis dahin arbeitet Wilke mit dem, was die Gemeinde jetzt zu bieten hat, um Touristen und neue Kolonisten anzuziehen.
Der Denkmalschutz – Bürde und Chance
An den Ortseingängen informieren Hinweisschilder, die Wilke angefertigt und aufgestellt hat, den ankommenden Fahrradtouristen über die Kulturgeschichte des ältesten Kolonistendorfes im Oderbruch, die Öffnungszeiten des kleinen Selbstbedienungsladens im Bürgerzentrum und der Dorfkneipe, mit ihrem bescheidenen gastronomischen Angebot sowie über Übernachtungsmöglichkeiten. Manchmal hält er auch Fahrradtouristen auf der Dorfstrasse an und fragt sie, wie ihnen die Schilder gefallen haben, ob die Informationen reichen oder was besser zu machen ist. Und wer sie übersehen hatte, bekommt den freundlichen Hinweis, sie sich doch noch anzuschauen.
Die denkmalgeschützte Dorfanlage und die für das Kolonistendorf typischen Fachwerkhäuser sind das Pfund, mit dem Wilke wuchern will. Das Fachwerk ist das Markenzeichen des Dorfes. Selbst die Bushaltestelle und die Buden für die Dorffeste sind in Fachwerk angemalt. Alle Fachwerkhäuser stehen unter Denkmalschutz
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Sanierte Kolonistenhäuser.
Die Eigentümer haben strenge Auflagen seitens der Denkmalschutzbehörde zu erfüllen, was oft zu Konflikten führt. Nicht nur, weil eine denkmalgerechte Sanierung teuer ist, sondern auch, weil man einfach an seinem Haus nicht machen kann, was man für richtig hält. Wilke ist daher bemüht eine sachliche Atmosphäre mit der Denkmalschutzbehörde aufzubauen, die Kompromisse möglich macht. Auch weil die heute noch leerstehenden Häuser nicht mehr saniert werden können, sondern abgerissen und im alten Stil, aber angepasst an die heutigen modernen Bedürfnisse, wieder aufgebaut werden müssen.
Leerstehende Kolonistenhäuser. *
Schön finden die alten Fachwerkhäuser alle, aber die Kosten für den Erhalt der Grundstücke kann kaum einer aufbringen. Die sind nur zu tragen, wenn man Arbeit hat. Im Dorf gibt es gerade 20 Arbeitsplätze, die Arbeitslosigkeit liegt zwischen 25 und 35%, in manchen anderen Gemeinden bei bis zu 50%. Früher war es umgekehrt: da haben 70 bis 80% im Dorf gearbeitet. Viele junge Leute sind in der Vergangenheit abgewandert. Einige zieht es mittlerweile wieder mit ihren Familien zurück, aber es fehlt ihnen eine Arbeit und das Geld, um heimzukehren und ein Grundstück zu übernehmen. Früher waren die Fachwerkhäuser etwas für die armen Leute. Die Besserverdienenden im Dorf bauten sich massive. Heute ist es umgekehrt. Obwohl die Grundstückspreise derzeit im Keller sind, lassen sich kaum Käufer für die Grundstücke in Dorf finden.
Altes Kolonistenhaus
Kolonisten gesucht
Ohne den Zuzug von jungen Familien wird es Neulietzegöricke schwer haben, sich zu entwickeln. 2003 und 2004 wurden gerade mal 3 Kinder im Dorf geboren. Das reicht nicht, um die Einwohnerzahl auf Dauer stabil zu halten. Und mit derzeit 230 Einwohnern ist ohnehin bald der historische Tiefstand von 1993, wo nur noch 220 Menschen, und dazu viele Alte im Dorf wohnten, erreicht. Zusammen mit dem Handwerkern und Gewerbetreibenden im Dorf will er einen Ort schmieden, in dem es sich leben lässt. Schade nur, dass es die Künstler vorzugsweise auf die abseits vom Dorf gelegene Loose zieht und nicht nach Neulietzegöricke. Sie wären in den Augen Wilkes gute Partner für die Dorfentwicklung. Aber nur aus eigener Kraft wird die Dorfentwicklung wohl nicht gelingen. Landesförderung ist eine unverzichtbare Säule, nicht nur im Denkmalschutz, auch hinsichtlich der zu schaffenden Infrastruktur. Wilke versucht daher, Neulietzegöricke mit zusätzlichen Fördermitteln für die Bürger und die Gemeinde vorwärts zu bringen. Über das Dorferneuerungsprogramm des Amtes für Agrarordnung des Landes Brandenburg wurde Neulietzegöricke schon zweimal gefördert. Auf die Partnerschaft der anderen Bürgermeister im Amt Barnim-Oderbruch und des Amtes selber kann und will er nicht verzichten, ebenso auf die Unterstützung der touristischen Anbieter in Wriezen, dem Tor zum Oderbruch, oder auf die Aktivitäten der dörflichen Vereine, deren Veranstaltungen die Gäste in die Dörfer holen, wozu sie wiederum auf die Unterstützung der ortsansässigen Betriebe angewiesen sind.
Aber in erster Linie muss sich das Dorf als eine Gemeinschaft fühlen, anders wird es nicht gehen. Die Bedrohung durch das Hochwasser 1997 hatte in dieser Hinsicht auch etwas Gutes: das Dorf wurde in der Gefahr zusammengeschweißt. Gemeinsam hat man sich für die Sicherung der Grundstücke eingesetzt, die freiwillige Feuerwehr war immer vor Ort. Das Dorf erfuhr einerseits sich als eine Gemeinschaft und andererseits die Unterstützung von außen. Das gab und gibt Zuversicht.
Erinnerung an das Hochwasser 1997 in der Amtstube
Zukunftsaussichten
Bürgermeister Wilke liebt die Weite des Oderbruchs, die stellenweise unberührte Natur. Er mag es, wenn er mittags rausgehen kann und sieht, wer abends zu Besuch kommt. An der Oder ist er oft, obwohl er kein Angler ist. Die Fachwerkhäuser mit ihren Details haben es ihm angetan. Es stört ihn, wenn jemand die Dörfer schlecht macht, sie zu Nestern degradiert, das Dorfleben niedermacht. Und wenn Pferde zu Gäulen gemacht werden, regt ihn auch das auf. Das Land hier ist ein Ausgleich zur Stadt, ein Erholungsraum. Die villenartigen Häuser in Neulietzegöricke dokumentieren, dass sich Städter schon immer gern auf dem Land aufgehalten haben.
Wenn das Engagement so wie jetzt bleibt und die Historie bewahrt wird, dann hat das Dorf eine Chance. Und wenn Fremdenzimmer eingerichtet werden, die maroden, fast mannshohen, Lattenzäune an der Dorfstrasse verschwinden und Hecken und Bäume gepflanzt werden, erhöht sich die Attraktivität eines Dorfes.
Das Oderbruch muss besiedelt bleiben. Es kann nicht soweit gehen, dass wir der Natur weichen. Vom Naturschutz kann die Landschaft nicht leben. Aber es wäre schön, wenn die alte Oder wie früher wieder fließt und man in ihr baden könnte. Es müssen Kompromisse gefunden werden, dass die Landschaft finanzierbar erhalten werden kann.
* diese Bilder sind im Rahmen eines ABM-Projetes entstanden
Kenneth Anders und Lars Fischer
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