S. Siegel: Geliebtes Oderbruch

Beschreibung einer geliebten Landschaft

Von Sonnhild Siegel

Sie ist nicht schön im herkömmlichen Sinne, meine geliebte Landschaft. Eine weite Bruchniederung, tellerflach und wenig gegliedert. Vor zwei Jahrhunderten noch Moor und Seegrund. Vom Menschen geschaffen, dem Menschen ausgeliefert. Durchzogen von Gräben und Drainageröhren, Jahr für Jahr von neuen aufgerissen, besät und abgeerntet. Ihre Schönheit erschließt sich langsam und erst auf den zweiten Blick.

Man findet sie in der Harmonie ihrer Horizontlinien, der Sanftheit und Kraft ihrer Farben, im Wechselspiel des Lichts über der weiten Fläche. Eine riesige Himmelskuppel überspannt die Ebene, meist belebt von Wolken, manchmal aber auch wolkenlos, leuchtend in gläsernem Vormittagsblau, strahlender Mittagshelle, durchsichtigen Grün- und Purpurtönen am Abend, wenn das Licht nicht schwinden will.

Offene Landschaft – der Wind weht frei darüber hin. Sich Nähernde sind lange schon sichtbar. Die Igelköpfe der Weiden, die Zypressenfinger der Pappeln, die Säulenreihen der Eichen heben sich einzeln in ihrer charakteristischen Gestalt von dem hellen Himmel ab. Mondnächte im Mai laden zu Spaziergängen in der endlich wieder lauen Luft ein.

Es ist hell draußen, weiß blinken die Wege. Der Mond schwimmt im Wasser der Gräben. Vom Fluss her kommt ein voller, rhythmischer Ton, der immer lauter und differenzierter wird, je näher man dem Ufer kommt. Schließlich lassen sich einzelne Stimmen im Chor unterscheiden: Nachtigallenschlag aus dem Weidengebüsch, das rhythmische Quaken der Frösche von den seichten Tümpeln des Vorlandes her, die Rufe der Wasservögel im Schilf.

Der Sommer kommt mit der Holunderblüte. Festlich geschmückt ist das ganze Land mit den kugeligen Sträuchern voller weißer Blütendolden, die wie riesige Hochzeitssträuße leuchten. An windstillen Abenden ist die Luft von ihrem Duft erfüllt. Weiße Margeriten, wilde Stiefmütterchen, violetter Lauch und die schaumigen Dolden des wilden Kerbels blühen am Deich. Es ist still auf den Feldern.

Zeit des Wachsens. Hasen und Fasanen leben ungestört im hohen Getreide.

Nun sind die Störche fortgezogen, die noch vor kurzem gemessenen Schrittes den Pflügen folgten. Der Herbst mit seinen Nebeltagen beginnt. Es ist anheimelnd und ein bisschen gruselig, durch den Nebel zu gehen.

Sanfte Feuchtigkeit legt sich auf die Haut. Kaum hörbar die Schritte. Ganz nah kommt man den grauen Gestalten der Reiher, bevor sie mit ihrem schweren, lappigen Flügelschlag davonfliegen. Im Kleefeld tauchen Holzkreuze auf, Sitzgelegenheiten für die Greifvögel im Herbst. „Das sind die Gräber der Odergeister“, flüstern die Kinder. Wenn es Nacht wird, steht der Nebel wie eine weiße Wand vor dem Haus. Am Morgen sind die Wiesen blasse Nebelseen. Baumreihen schwimmen darin, schemenhaft, wie Kulissen eines Bühnenbildes von großer Tiefe. Doch dann bricht die Sonne durch und zeigt noch einmal ihre Kraft. Der Himmel wird blau und hoch, Keile von Wildgänsen ziehen mit Geschrei darüber hin.

Niemals sonst ist die Landschaft so karg, so auf das Wesentliche reduziert wie an schneelosen Wintertagen. Kahl und struppig stehen die Bäume in der fahlen Sonne und werfen schwache Schatten. Die trockenen Halme an den Wegrändern sind hart und verblichen. Zu beiden Seiten des Weges dehnen sich jetzt leere Ackerflächen. Fettig glänzten ihre großen Schollen im Herbst, nun hat der Frost sie fein zerkrümelt. Die Erde ruht.

Unzählige Abdrücke von Schafshufen bilden im gefrorenen Schlamm des Weges ein feingliedriges Muster. In tiefen Reifenspuren glänzt dünnes Milchglaseis. Tritt man darauf, zersplittert es mit feinem Klirren. Die Geschichte der Menschen verbirgt meine Landschaft in ihrer dunklen Erde. Was hat mein Nachbar nicht alles darin gefunden: Netzsenker mit den Hauszeichen der Fischer, Aalstecher und Hufeisen, deutsche, russische und französische Bajonette aus der Zeit der Befreiungskriege. Dazu die Relikte des letzten Krieges: Geschosshülsen, Panzerfäuste, Flugzeugteile, Stahlhelme und kleine, ovale Messingschilder mit eingestanzter Nummer, die Kennmarken gefallener Soldaten. In den ersten Jahren nach dem Krieg war das Pflügen lebensgefährlich.

Geschichte begegnet mir auch beim Lesen deutscher, französischer und wendischer Ortsschilder und beim Blick in die Gesichter der Menschen, der Nachfahren pfälzischer, polnischer, schwedischer und schweizerischer Kolonisten. Endlich wieder auferstanden ist die Geschichte in den vielgeliebten Standbildern vom „Alten Fritz“, die auf ihre Sockel zurückgekehrt sind; und sie lebt fort in den weißen Kreuzen des polnischen Soldatenfriedhofs am anderen Flussufer.

Wenn ich mich auf der Höhe des Barnim noch einmal umwende und ins Oderbruch zurückschaue, kann es vorkommen, dass mein irritiertes Auge plötzlich dort, wo die Traktoren emsig hin- und herfahren, eine weite, in der Sonne glänzende Wasserfläche erblickt.

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