Newsletter des Bundesnetzwerkes Bürgerschaftliches Engagement NR. 21 vom 21. Oktober 2007
Von Kenneth Anders und Lars Fischer
Erfahrungen mit dem Engagement in der Kulturlandschaft
Das Oderbruch ist eine Nutzlandschaft: modern, schnörkellos, nüchtern und in seiner jetzigen Gestalt gerade einmal 250 Jahre alt. Seit im Jahre 1753 die Stromoder in ein neues Bett verlegt wurde, ticken die Uhren für Menschen, Pflanzen und Tiere hier anders. Die Traditionen reichen also nicht so weit zurück wie im Schwarzwald oder auf Rügen. Liest man die Kirchenbücher, die daher oftmals „nur“ bis in die Zeit der Erbauung der Gotteshäuser am Ende des 18. Jahrhunderts zurückreichen, findet man die Namen der ersten Kolonisten. Viele sind auch heute noch im Oderbruch verbreitet.
Da die Verlegung der Oder ein Werk der Obrigkeit war, hat der Staat seither eine besondere Verantwortung in dieser Region wahrnehmen müssen. Der Landschaftswasserhaushalt erfordert bis heute einen großen Regelungsaufwand, immer wiederkehrende Hochwasser müssen abgewehrt oder, im Unglücksfall, deren Folgen bewältigt werden. Lange Zeit war dies wegen der Bedeutung des Oderbruchs für die Landwirtschaft auch im volkswirtschaftlichen Interesse, aber spätestens seit Aufnahme des Oderbruchs in die Europäischen Gemeinschaft könnte der Staat auch gut und gern auf die hier produzierten Zuckerrüben und die sonstigen Feldfrüchte verzichten. Er hält sich noch an seine alten Verpflichtungen, beinahe denkt man: aus alter Gewohnheit. Immerhin hat ja das 1997er Hochwasser noch einmal die nationale Aufmerksamkeit für das Oderbruch mobilisiert und in der Folge eine Akzeptanz für gigantische Deichsanierungsmaßnahmen geschaffen, die die Landschaft nie hätte allein bewältigen können. Aber wird das so bleiben? Und ist es überhaupt eine gute Strategie, sich auf die dauerhaft schirmende Hand des Staates zu verlassen? Peter Fritz Mengel, der Herausgeber des bis heute fundiertesten Buches über das Oderbruch, wusste schon 1931: „Die letzte und beste Hilfe wird dem Oderbruche aber nicht von außen, von keiner noch so wohlmeinenden Staatsregierung kommen können. Ständige Hilfe von außen führt zur Verweichlichung und Bevormundung. Unversiegbare Kraft strömt nur aus Selbstverantwortung und Selbstverwaltung, aus freiwilliger Unterordnung zum Wohle des Ganzen.“ Der Tonfall klingt etwas martialisch und lässt die dreißiger Jahre des 20. Jahrhunderts nachklingen – der Kern ist aber ganz sachlicher Art. Aus den Worten des damaligen Landrats spricht weniger eine prophetische Voraussicht des bevorstehenden Bedeutungsverlustes der eigenen Landschaft als vielmehr eine einfache Einsicht: Besser, sicherer und schöner ist es doch, wenn sich die Leute um sich selbst kümmern.
Nun könnte man erleichtert abwinken und einwenden, dass die Leute dies ja längst tun und schon immer getan haben. Immerhin; jeder verrichtet sein Tagwerk, sofern er nach dem Zusammenbruch der alten, sozialistischen Planwirtschaft noch eines hat: Der Bauer pflügt sein Feld, die Ärztin behandelt ihre Patienten, der Pfarrer umsorgt die Seelen, die Lehrerin unterrichtet die Kinder. Wie in jeder anderen ländlichen Region gibt es zudem die üblichen Formen der Selbstorganisation: die kommunale Selbstverwaltung, die freiwilligen Feuerwehren, die Kirchen, die Sportvereine und die Chöre. Was will man mehr? Für den Rest sollte doch der Staat zuständig sein. Und so hört man es auch allerorten im Oderbruch: Die Politiker müssten sich mal was einfallen lassen, sonst saufen wir hier alle noch ab. Die Politiker werden nicht und sie können es auch nicht. Das Oderbruch hat seine volkswirtschaftliche Notwendigkeit eingebüßt, es wird von niemandem mehr gebraucht als von seinen Bewohnern selbst. Soll es in der jetzigen Form (also als trockengelegter Flusspolder) überleben, muss es sich selbst eine neue Aufgabe geben. Die Landwirtschaft war und ist gegenüber anderen möglichen Formen, ein Land zu nutzen (Forstwirtschaft, Tourismus, Naturschutz oder Fischerei) übermächtig. Nun, da sie nicht einmal mehr ein Zehntel der Menschen beschäftigen kann, fehlen andere Zweige, die in diese Lücke ranken und den Menschen einen Halt geben könnten. Das ist nicht nur eine Frage der Beschäftigung, es betrifft die gesamten Vorstellungen vom Leben im Oderbruch. Wie soll es als Lebensland seiner Bewohner, als ihr Habitat, das sie seit Langem besiedeln, aussehen, welche Spielregeln für das Zusammenleben sollen herrschen, welche Chancen gibt es?
Das Nachdenken über diese Fragen oszilliert zwischen existenzieller Notwendigkeit und blanker Utopie, es handelt vom Überleben im ländlichen Raum und zugleich von den Ansprüchen der Menschen an ihr Gemeinwesen. Diese Dinge liegen jenseits des täglichen Geschäfts, sie bedürfen des Engagements für die eigene Landschaft. Der Bauer muss mehr bestellen als seinen Acker, der Pfarrer muss sich um mehr sorgen als um seine Seelen, die Lehrer müssen mehr im Blick haben als ihre Schule. Eine Landschaft, die eine Krise überwinden will, sollte sich als Solidarverband begreifen, die vermeintlich Starken müssen Verantwortung übernehmen und zugleich die Grenzen ihrer Fähigkeit erkennen, die Landschaft zu steuern. Erst dann können auch die Beiträge der „Schwachen“ geachtet werden. Aus einer gewachsenen Agrarbevölkerung muss eine Zivilgesellschaft werden. Jeder noch so kleine Beitrag zur Entwicklung der Landschaft kann am Ende entscheidend sein. Es sind Spielräume für regionale Wertschöpfungen zu suchen, kulturelle Initiativen in Wert zu setzen – alles, was an Wissen und Fähigkeit in der Landschaft steckt, muss geborgen werden. Dabei gilt die Annahme, dass die Antwort auf die Frage nach dem Schicksal der eigenen Landschaft bereits jetzt in dieser Landschaft enthalten ist. Nur müssen die Bausteine aufgefunden, neu gewichtet und zusammengesetzt werden. Es ist eine Aufgabe wie ein Puzzle, das nur von vielen Menschen gelöst werden kann.
Aber wer will eine solche Anstrengung mobilisieren? Das Oderbruch als naturräumlich und kulturell extrem begrenzte Landschaft hat keine Steuerungsinstitution, es gehört Räumen an, die weit über seine Grenzen (und Probleme) hinaus ragen. Viele Menschen engagieren sich – aber ihr Engagement bündelt sich nicht von allein zur gemeinsamen Gestaltung des Habitats.
Vor diesem Hintergrund entstand 2004 die Idee, für das Oderbruch eine Werkstatt einzurichten, einen Raum, in dem all jene Menschen mit ihrem Wissen und ihren Perspektiven eine Repräsentanz bekommen, die sich für die Landschaft engagieren wollen: Landwirte, die ihre Böden und Schlagstrukturen beschreiben, Bürgerinitiativen, die ihre Anliegen darstellen, Bürgermeister, die ihre Niederlagen und Erfolge schildern, Naturschützer, die zeigen, was sie schützenswert finden, Künstler, die uns die Landschaft mit ihren Sichtweisen neu interpretieren. In Form einer ständig wachsenden und sich ändernden Ausstellung, ähnlich den Länderpavillons auf den Weltausstellungen, sollten die Bausteine für die Zukunft des Oderbruchs gesammelt und bearbeitet werden. Der Name des Projekts: Oderbruchpavillon. Hier sollte dann auch der Platz sein, an dem die Auseinandersetzungen über den Einsatz der Gentechnik im Oderbruch, über den geplanten Bau neuer Straßen, über Chancen der Direktvermarktung oder über die Steuerung des Grundwassers geführt werden. Zugleich sollte dieser Raum die Besonderheit und Schönheit der Landschaft verdeutlichen und sinnfällig machen – und so auch für Besucher und Gäste von außen einen attraktiven Einstieg in die Landschaft bilden.
Die Idee scheiterte, zumindest, was ihre materielle Umsetzung anbelangt. Es ist bis heute nicht gelungen, einen Partner für die Umsetzung des Projektes zu finden. Nach Stunden und Tagen in Amtszimmern und Büros kann man resümieren – die Idee ist auch von den meisten Akteuren bis heute nicht verstanden worden. Zudem befürchteten viele, ihre angestammten Rechte in einem so offen gehaltenen Prozess ohne Not zur Disposition zu stellen. „Wat bringt mir dit?“ war die mit verschränkten Armen vorgetragene Frage der Prokuristin eines der großen Landwirtschaftsbetriebe im Oderbruch. Diese Frage war nicht in der gleichen Prägnanz zu beantworten.
Also emigrierten wir in die Virtualität – ins Internet. Unter www.oderbruchpavillon.de entsteht seit drei Jahren eine selbst finanzierte Internetausstellung, die nach wie vor auf ihre materielle Realisierung im Raum lauert, allerdings schon jetzt regelmäßig zu zahlreichen Veranstaltungen ins echte Leben tritt. Begonnen hat es mit Porträts von Akteuren in der Landschaft in Text und Foto. Nach und nach konnten wir andere Menschen überreden, selbst Beiträge über ihr Wissen, über ihre Sichtweisen, Sorgen oder Träume zu verfassen. Seither wächst das Portal fast von allein und wird von vielen genutzt, die sich über das Oderbruch informieren wollen. Für uns ist es die Grundlage der weiteren Arbeit in der Landschaft – mit jedem Baustein wird der Boden, auf dem wir gehen, ein Stück sicherer.
Der Oderbruchpavillon hat noch eine weitere Funktion – einmal stattgefundene Ereignisse oder Initiativen können hier dokumentiert und so vor dem Vergessen bewahrt werden. So veranstalteten wir 2006 ein Liederfest, bei dem wir die Bewohner des Oderbruchs baten, ein Lied für ihre Landschaft zu singen – Chöre und Bands kamen, Sängerinnen und Sänger wetteiferten um das schönste Lied. Wenn man es hinterher im Oderbruchpavillon aufbewahrt, hat man das Gefühl, dass es nicht der Versenkung anheim fällt.
Ähnlich ging es mit einer Radtour, die wir im Jahr 2007 gemeinsam mit dem ZALF Müncheberg im Rahmen von Kulturland Brandenburg über verschiedene „Wasserorte“ im Oderbruch entwickelt haben. Wenn die gedruckten Karten einmal vergriffen sind, wird man sich die Route immer noch aus dem Netz herunterladen können.
Der Oderbruchpavillon, obwohl ohne starken Partner, ohne prominente Schirmherren und ohne öffentliche Unterstützung, hat inzwischen viele kleine Partner und Unterstützer gewonnen. Es ist ein Stück Engagement für die eigene Landschaft, ein Versuch ländlicher Selbstorganisation jenseits des täglichen Geschäfts – genau auf halber Strecke zwischen blanker Utopie und bitterer Notwendigkeit. Dr. Kenneth Anders und Lars Fischer sind Kulturhistoriker, bzw. -wissenschaftler und „Raumerforscher“, die gemeinsam ein „Büro für Landschaftskommunikation“ in Freienwalde betreiben.
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Dr. Kenneth Anders
Neutornow 54
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