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Die drei Oderschleifen entdecken – eine Fahrradtour.
Von Gerhard Lichtner
Ein Fahrradausflug im Frühjahr letzten Jahres, ausgehend von Stolzenhagen: Wir folgen stromaufwärts dem alten Oderlauf, d.h. wir umkurven die Oderinsel. So wird die ungefähr 25 km² große Erhebung, um die sich bis ins 18. Jahrhundert die Oder schlang, genannt. Der neue Oderlauf entstand im Zuge der Trockenlegung und Kolonisierung des Oderbruches1), als zwischen Neuglietzen und Hohenwutzen ein Durchstich erfolgte. Noch immer kann man am Verlauf der 2 bis 3 Kilometer breiten Aue die ursprüngliche Bewegung des Stromes gut nachvollziehen.
Die „Oderinsel“ spielt, meiner Beobachtung nach, weder im Bewusstsein der Einheimischen noch als Sehenswürdigkeit eine große Rolle; die Nennung des Begriffes in einigen Landkarten, auch ein Gasthaus heißt „Die Insel“, hat mir geholfen dem Phänomen einen Namen zu geben. Zumindest habe ich als Zugezogener diese Erscheinung, die die ganze Gegend prägt, zu wenig gewürdigt gefunden. Dabei ist sie spektakulär!
Traumreise in die Vergangenheit: Die unzähligen Nebenarme des großen Flusses, man stelle sich eine Landschaft wie im Spreewald heute vor, sammeln sich am Ende des Oderbruches und strömen in einen 2-3 Kilometer breiten Trichter. Es beginnt der 25 Kilometer lange Weg des Stromes um die Insel. Am Scheitel kratzt die Aue im Westen beinahe Eberswalde, um danach über Oderberg nach Osten zurück zu schwingen…
Obwohl unsere Landschaft als naturnah angesehen wird, sind alle „Sünden“ der Kultivierung schon geschehen. (Ich meine nicht die Kultivierung an sich, sondern die dabei in Kauf genommenen oder unbedacht vorgenommenen Eingriffe in den Energiefluss und -haushalt der Landschaft.)
Ich setze mir in Gedanken die Touristenbrille auf. Ich komme auf dem Oderdeich von Osten her (stromabwärts) auf Altglietzen zugeradelt, entlang dem Oder- Neißeradweg. Ich freue mich über die Aussicht und die Vogelwelt, fahre von Altglietzen die 150 Meter auf die Nordseite der Insel. Dass ich aber gerade viele Kilometer Oderaue abgekürzt habe erlebe ich nicht; vielleicht lese ich einen Hinweis darauf auf einem Schild…
Sylvia erzählt später, dass sie unser Ausflug immer noch beschäftigt; dass es ein gewaltiger Unterschied sei, ob man die Oderinsel und den Verlauf der Aue auf der Karte sieht und sporadisch an einigen Orten des Verlaufes ist oder ob man dem Verlauf mit dem Fahrrad folgt. Ich habe einen ähnlichen Gedanken: Wie muss es sich anfühlen/angefühlt haben, stromab im Unteren Odertal, also z. B. in Stolzenhagen zu leben und um die Kraft der drei Oderschleifen2) in ihrer ursprünglichen Form zu wissen. Aus eigenem Erleben und Erfahren. Und dass alle drei Schleifen eine mäandernde Bewegung sind. Wahrscheinlich würde man nicht nur um die Kraft wissen, sondern auch etwas davon spüren, daran teilhaben. Vielleicht sogar sie sich zu Nutze machen.
Der Jakobsweg wird fleißig begangen; auf dem Rennsteig im Thüringer Wald tummeln sich die Wanderer. Ich glaube, das hat etwas mit dem Pilger in uns zu tun: Die Vorstellung, einen Weg von A nach B zu gehen, der durch Benutzung aufgeladen wird, fasziniert uns, gibt uns Sicherheit und das Gefühl, wir selbst und Teil einer Kraft zu sein. Und diese sich steigernde Neugier, wie es wohl weitergeht, und tiefe Verbundenheit mit dem vom Wasser gebahnten Weg hat sich, als wir der Alten Oder folgten, bei uns eingestellt. Ich denke, man kann auch andere Menschen mit dieser Lust anstecken. Doch im Moment findet der (Pilger)weg entlang der Alten Oder nur in unserer Phantasie statt; wir bewegen uns auf meist schlecht ausgebauten Wegen – aus Nützlichkeitserwägungen angelegt – die immer nur ein Stück weit dem ehemaligen Flusslauf folgen.
Der Weg entlang der Alten Oder von Hohensaaten nach Oderberg verläuft auf der Südseite des Flusses. Fluss ist nicht ganz exakt; denn das Gewässer wird aus dem Oder Havel-Kanal, dem Finowkanal, der Alten Finow und den – verglichen mit dem Strom – spärlichen Wassermengen der Alten Oder gespeist. Die Häuser, die wir am Südufer wahrnehmen, „funktionieren“ nicht, wirken meist unbelebt. Besonders ist uns ein neu erbautes Landhaus mit überdimensionierter Zufahrt und klinischer Ausstrahlung in Erinnerung geblieben. Das Dilemma dieses und der anderen Gebäude bzw. Anwesen ist, dass sie ihren Rücken nach Süden zur Aue hin wenden und mit dem Antlitz zur Alten Oder schauen. Direkt hinter dem Nordufer steht hoher Baumbestand, so dass zwar ein einigermaßen bewegtes Gewässer vor der Haustür ist, der Blick jedoch nicht in die Weite schweifen kann. Ganz anders als noch eine halbe Stunde zuvor am Oderstrom fühlen wir uns schwer und inspirationslos. Die Bäume am Nordufer verbergen das eingezäunte riesige Areal zweier ehemaliger Rüstungsbetriebe, der „Sprengchemie“ und der „Nobel-AG“…3)
In Oderberg angekommen fahren wir zum Bollwerk, den Panoramablick auf die kleine Stadt zu genießen. Der Genuss und die anfänglich empfundene Erleichterung gegenüber der Situation auf dem Weg von Hohensaaten weichen langsam der Enttäuschung. Oderberg wirkt, abgesehen von etwas Autoverkehr auf der Hauptstraße, wie ausgestorben. He, es ist Sonnabendnachmittag; es ist Mai und die Sonne scheint! Wo sind die Menschen? Der Organismus der Stadt, jahrhundertelang ein strategisch und wirtschaftlich exponierter Ort, wirkt nach einigem Wahrnehmen wie wund. Später erfahren wir, dass in den 1970er Jahren ein Drittel der mittelalterlichen Stadt, wegen des Baus einer Straße4) abgerissen wurde. Beim Imbiss direkt am Wasser sind wir die einzigen Gäste. Beim Wirt liegt eine Chronik von Oderberg aus. Wir blättern darin und suchen Hinweise auf die „Sprengchemie“. Nur die Demontage und Zerstörung durch die Rote Armee 1945 wird kurz erwähnt…
Ehemaliger Bahnhof Oderberg/Bralitz: Ein altehrwürdiger Backsteinbau. Er dient zur Zeit als Materialspender; Scheiben sind eingeworfen; der Bahnhofsvorplatz ist zugewuchert. Wo einmal die Gleise entlang führten ist ein toter Ort. Die Bahnstrecke folgte zwischen Oderberg und Schiffmühle dem Lauf der Alten Oder5). Ich habe schon mehrmals beobachtet, z.B. im Unstruttal, dass die Eisenbahn die Funktion des „Energietransportes“ vom gebändigten Fluss übernommen hat. Ich vermute, dass es auch hier so war und dass die positive Wirkung der Bahn nach der Streckenstilllegung in ihr Gegenteil umschlug. Die verlassenen Bahnanlagen sind Zeugnis vergangener Bedeutung. Der rege Autoverkehr zwischen Bad Freienwalde und der deutsch-polnischen Grenze, vor allem Tanktourismus, quert die Insel und nimmt den alten Oderlauf, anders als die Bahntrasse, nicht auf. Aus dem Auto heraus erschließt sich die Oderlandschaft deshalb nicht.
Bralitz liegt am inneren Scheitel der 1. Schleife gegenüber von Niederfinow. Bis vor 300 Jahren befand es sich in hervorragender Lage am Oderstrom. Als ich das Dorf zum ersten Mal auf der Karte sah, vermutete ich einen kräftigen Ort mit Ausstrahlung. In Bralitz wird man jedoch von Industriebrachen aus DDR-Zeit empfangen. Verhältnismäßig viele verfallene Häuser. Am Ende des Dorfes weist eine Tafel darauf hin, dass die Aue hier Kulturlandschaft ist, dass durch die Trockenlegung Hochwasserschutz erreicht und Landwirtschaft möglich wurde, jedoch immer neue Pflege der Pumpen und Deiche erforderlich ist. Wir können keinen Hinweis darauf finden, dass hier unmittelbar vor dem Ort ein breiter Strom seine Wasser, die z.T. hunderte Kilometer weiter nordöstlich entspringen, vorbei getragen hat. Mit 200 Meter Abstand schauen wir auf das Dorf zurück. Eine verhältnismäßig große neugotische Kirche dominiert die Silhouette. Wie beim Blick auf die Karte entsteht aus der Distanz der Eindruck von einem gesegneten Ort.
Indem ich dem Wasser der Oder gedanklich stromaufwärts entgegengehe, über Küstrin, Frankfurt, Wroclaw (Breslau) bis zur Quelle im mährischen Odergebirge6), beginne ich ein Gefühl dafür zu bekommen, dass der Wahrnehmung des Flusses eine wichtige Rolle bei den Themen: deutsch-polnische Geschichte, Vertreibung und Ankommen von Deutschen und Polen, Versöhnung und Entwicklung der Region dies- und jenseits der Oder im Rahmen der EU zukommt. Mir kommen Fragen: Was hat sich während des 2. Weltkrieges und danach in der Wahrnehmung der Menschen verändert? Was veränderte sich, als der Fluss, den man wahrscheinlich als Versorger und Verbindung wahrnahm, zur Grenze wurde?
Hinter Bralitz bewegen wir uns am inneren Scheitel der ersten großen Oderschleife entlang und schauen in Richtung Niederfinow. Zum ersten Mal seit dem Abbiegen in Hohensaaten, von der Stromoder weg, verschwindet die Wahrnehmung „schwer und zäh“ ganz, zum ersten Mal wieder der Eindruck in uns, einer lebendigen Bewegung zu folgen. Die Sicherheit, einem wichtigen Weg zu folgen, stellt sich ein; es macht Spaß zu fahren. Wir kommen an den Punkt, wo sich beim Blick nach Westen die Horizontlinien der Moräne im Norden (Schiffshebewerk) und der im Süden (Falkenberg) vereinigen. Ein kleines Hochgefühl. Rückblickend einer der Momente die sich am tiefsten eingeprägt haben.
Wir haben die Bundesstraße 158 in Schiffmühle überquert und fahren am Rand der Insel in Richtung Nordosten. Über uns auf einem Vorsprung thront die Kirche von Neutornow7). Wir können uns gut vorstellen, dass sie sich an einem bereits vorchristlich genutzten Ort befindet. Die Insel und besonders die „Südostküste“ zum Oderbruch hin, wo wir uns gerade befinden, könnte unsere germanischen und slawischen Altvorderen eingeladen haben, hier Rituale abzuhalten. Man stelle sich vor: Eine Halbinsel, gespeist von der Energie der vielen Flussarme, die hier beinahe rechtwinklig auf die Insel trifft und der einzige trockenen Zugang, nur 100 – 200 Meter breit, von Osten her.
Neuglietzen, mit seiner Orientierung nach Süden, wirkt sehr freundlich. Auch hier kommt uns die Assoziation von Küste. Wir sitzen auf dem Hof des Wirtshauses und bewundern die ideale Konstellation: Rücken des Hauses zum Hang hin nach Norden, Öffnung nach Süden zum Oderbruch hin. Auch Neuglietzen liegt an einem Scheitelpunkt: Nördlichster Ort des Oderbruches; hier werden die Wasser und Energien, die an der Nordostseite des Bruches entlang streichen, umgelenkt und nach Südwesten in Richtung Bad Freienwalde, Falkenberg geschickt…
Wir haben auf unserem Ausflug um die Oderinsel immer wieder unsere Wahrnehmungen über Stimmung und Körpergefühl ausgetauscht; da ergaben sich ständig Veränderungen. Als wir in Altglietzen wieder am – zwar begradigten und durch Deiche am Ausfließen gehinderten – Oderstrom stehen, ist für uns die Welt wieder in Ordnung: Wie viel Kraft in den fließenden Wassermassen steckt! Wir bemerken wie diese Kraft auch uns erreicht und uns in Resonanz versetzt. Deutlich auch der Unterschied zu unserem Körpergefühl während des Ausfluges um die Insel. Der Strom ist einfach.
Wir fahren müde und erfüllt gen Norden an der Oder entlang nach Hause. Mit unserem über den Tag geschärften „Oderblick“ fallen uns noch ein paar Eigentümlichkeiten auf: Das Denkmal für die Schlacht von 972 8) scheint an einem neuralgischem Punkt zu stehen, nahe des Durchstiches und da, wo die Aue, aus der ersten Schleife kommend, nach Polen wechselt. Uns ist der Ausdruck des Denkmals zu stark. In die Erinnerung an den historischen Ort mischt sich zuviel Botschaft von Sieg und Niederlage, die dem Fluss hier mit auf den Weg gegeben wird.
Der Blick nach Cedynia (Zehden) tut etwas weh, besonders nach den Erfahrungen des Tages heute; die zweite Schleife wurde komplett des Wassers und der Strömung beraubt. die Stadt steht heute da ohne Oder; das Zehdener Bruch ist durch Eindeichung zu einem vom fließenden Wasser getrennten Getreideacker geworden. Wir haben in einer Chronik ein Kartenfragment gefunden, wo dargestellt ist, dass um 1847 das Bett für die Stromoder vor der Haustür von Zehden vorbeigeleitet werden sollte. Schade, dass man sich damals doch für den kürzesten, geraden Weg entschied.
Und auch die dritte Schleife, an der unser Ort Stolzenhagen liegt, ist zumindest teilweise vom Energiestrom der Aue abgeschnitten. Zwar führt die Hohensaaten-Friedrichsthaler-Wasserstraße, die Aue als Westoder flankierend, unmittelbar am Dorf vorbei; der Strom wird jedoch mittels Oderdeich auf der „Ideallinie“ direkt nach Norden gezwungen.
Anmerkungen:
1) Bau eines Kanals, der die Oder zwischen Güstebiese und Hohensaaten begradigt (1747-1753), unter Friedrich dem Großen. Im Zusammenhang mit dem Oderdurchstich wurde das Oderbruch trockengelegt und intensiver besiedelt. Anlass für erste Planungen war das verheerende Sommerhochwasser von 1736.
2) Schleife Nr. 1 mit äußerem Scheitel Niederfinow, Schleife Nr. 2 mit äußerem Scheitel Cedynia (Zehden) – Lubiechow-Dolny (Niederlübbichow), Schleife Nr. 3 mit äußerem Scheitel Stolzenhagen – Stolpe
3) Sprengchemie, 1945 von der Roten Armee demontiert und größtenteils zerstört; z. T. bis in die 90er Jahre benutzt (das Tanklager), großflächig mit Stacheldrat eingezäunt, ca. 5 km2 Fläche
4) Bundesstraße 158, Verbindung von Bad Freienwalde und Angermünde, in den 70er Jahren wurde eine Art Umgehung des Zentrums gebaut.
5) Verbindung Angermünde – Bad Freienwalde, Eröffnung: 01.01.1877; Offizielle Stilllegung: 30.11.1997
6) Buchempfehlung: Uwe Rada, „Die Oder“; Uwe Rada ist ein Kenner der Oder. Er ruft die Erinnerung an einstige Bedeutung wach und mit dem gleichen Gewicht hebt er die Entwicklungschancen der Oderregion innerhalb Europas hervor.
7) Gedicht von Fontane am Grab seines Vaters:
„…Berglehnen, die Oder fließt dran hin, Zieht vorüber in trägem Lauf, Gelbe Mummeln schwimmen darauf, Am Ufer Werft und Schilf und Rohr…“
8) Verweis in: Jörg Lüderitz, „Die Neumark entdecken“; „Im Jahre 972 wollten Markgraf Hodo und Graf Siegfried von Walbeck Gebiete östlich der Oder in ihre Oberhoheit bringen. Sie wurden aber in einer Schlacht bei „Cidini“ von Miesko I. und seinem Bruder Czibor zurückgeschlagen. Die Örtlichkeit des Gefechtes konnte aber nie nachgewiesen werden.“
Gerhard Lichtner, Jahrgang 1962, seit fast 10 Jahren begeisterter Anwohner des Unteren Odertals, Diplomdesigner, Geomant und Lehmbauer. „Ich schaue gern darauf, wie Orte und Dinge uns helfen und unterstützen aber auch uns bremsen können und denke immer mehr: Wir sollten uns das bewusst machen; dann bekommen wir einen Schlüssel für achtungsvolle Gestaltung und Planung in die Hand.“