Theater für Land und Leute
Eine Laudatio
Das Theater am Rand in Zollbrücke erlebte am 31. Januar 1998 seine erste Vorstellung. In den fünf Jahren seines Bestehens hat es keinen öffentlichen Euro verzehrt und sich vital entwickelt: einen Wegfall von Fördergeldern muss niemand befürchten, weil es bisher keine gibt. Statt mit Eintrittskarten arbeitet man mit Austrittspostkarten, die nach der Vorstellung für einen Betrag erworben werden, den der Besucher selbst bestimmt. Das ist nicht einfach eine Kollekte nach dem leutseligen Motto „jeder gibt eben, was er kann“. Dahinter steckt die ganze Philosophie eines einzigartigen Kunstprojekts. Die beiden Protagonisten, der Akkordeonist Tobias Morgenstern und der Schauspieler Thomas Rühmann, überlassen es ihren Besuchern, Tempo und Reichweite seiner Entwicklung mitzubestimmen: Wie gut hat mir die Vorstellung gefallen? Möchte ich wiederkommen? Welche Rolle spielt das Theater in meinem kulturellen Horizont? Habe ich Vertrauen, dass das gegebene Austrittsgeld in etwas Schönes, vielleicht sogar in etwas Wichtiges fließt? Auf diese Weise wächst eine Beziehung des Publikums zu „ihrem“ Theater. Seit einiger Zeit reifen Pläne für ein eine neue Sommerbühne im Garten, die mehr Zuschauer als das alte Fachwerkhaus bietet – auch dieses Vorhaben mithilfe der zahlreichen „Fördergäste“.
Was also zunächst wie ein Nachteil schient – die Mittellosigkeit eines anspruchsvollen Kunstprojekts – mobilisiert in der Dauer ungeahnte Kräfte. In der Dauer, das heißt – bei langsamem Gedeihen. Denn Zeit hat man auf dem Land, nach einer Spielpause von ein paar Wochen ist man hier auch ohne größeren Werbeaufwand noch nicht vergessen.
Im Jahr 2002 erlebte das Haus 56 Veranstaltungen, davon waren 24 Gastspiele – das ist eine kluge Balance aus Fremd- und Eigenproduktionen, die immer neue Impulse von Außen ermöglicht und verhindert, dass die beiden Hausakteure sich in zu häufigen Wiederholungen verschleißen. Mit der Arbeitsfreundschaft von Morgenstern und Rühmann sind auch zwei professionelle Felder miteinander in Berührung gekommen – die musikalischen und szenischen Akteure der kleinen Bühnen und Clubs und das Schauspiel des Theaters und Fernsehens. Diese beiden Felder befruchten sich gegenseitig – trotz eines strengen Anspruchs an die Qualität der aufgeführten Produktionen bleibt Platz für Improvisation und Spontaneität.
Seine künstlerische und finanzielle Autonomie hat das Haus davor bewahrt, eine provinzielle Kopie der großen Stadttheater und Kulturhäuser zu werden. Kraft seiner eigenen Geschichte ist auf engstem Raum eine unverwechselbare Ästhetik gewachsen. Es entstehen sakrale Momente großer Intensität, Gemeinschafts- und Einsamkeitserlebnisse wechseln für das Publikum ebenso rasch wie Lachen und Weinen, Sprache und Klang – alles leidenschaftlich ineinander verwoben. Abenteuerliche Reiseberichte, poetische Momente von Liebe, Schmerz und Komik und eine große Lust an Musik vielerlei Spielart: die Besuche im Theater am Rand sind ein Energieschub ungeheurer Dichte, der als Impuls weit über die Aufführung hinaus wirkt.
Wer nach einer Aufführung am Sonnabendabend noch nicht genug hatte und eine der zahlreichen (und meist etwas konventioneller gehaltenen) Matineen am nächsten Sonntagmorgen besucht, wird sich auch wundern, wie verschieden das Publikum mitunter ausfällt und wie gezielt die jeweiligen Besucher offenbar die einzelnen Angebote wahrnehmen. Das Theater am Rand bespielt keine enge Szene, keine abgeschlossene Klientel. Spätestens bei den Weihnachtsprogrammen finden wir alle Schattierungen des Publikums vereint – alt und jung, ländlich und städtisch, mit und ohne Theatererfahrung…
Viel ist in den letzten Jahren von nachhaltiger Entwicklung die Rede: nachhaltige Landnutzung und Regionalentwicklung, nachhaltige Energie- und Finanzpolitik werden proklamiert und reklamiert. Gemeint ist damit, dass man für eine Sache nicht mehr Ressourcen verbraucht, als man durch sie schafft – so sichert man ihren Bestand, ihr Wachsen und Gedeihen. Gibt es nachhaltiges Theater? Das Theater am Rand könnte wohl eine solche Bezeichnung für sich beanspruchen, geht man davon aus, dass Morgenstern, Rühmann und ihre Unterstützer an Catering, Licht und Kasse nicht mehr Kraft für das Projekt verbrauchen, als sie dabei gewinnen. Und auch wenn man die Rolle betrachtet, die das Theater über seine Bühne hinaus in der Region spielt, würde es diesen Titel wohl verdienen. Es gibt jenen, die hier eine nachhaltige Lebensgrundlage suchen, die Gewissheit, dass sich das auch lohnt.
Künstler und Intellektuelle zog es schon immer aufs Land, um 1900, in den zwanziger und siebziger Jahren – im 20. Jahrhundert jagte eine Stadtfluchtwelle die nächste. Das Land bietet ja auch viele Vorteile: Ruhe zum Arbeiten, idyllische Gärten, oftmals auch eine größere Freiheit, denn trotz der hohen Sozialkontrolle des Dorfes genoss man auf dem Lande den Status des Narren und einen geringen politischen Überwachungsdruck.
Allein: das Land ernährt den Künstler nicht, solange er nicht zum Bauern wird. Die Bücher, die unterm Holunder geschrieben, die Bilder, die am Feldrain gemalt wurden – sie werden zumeist von einem städtischen Publikum gekauft. Der Künstler auf dem schmucken alten Hof gerann deshalb zum Klischee, man stellte ihn sich etwas wunderlich vor, am besten mit Pfeife und Hut. Symbolisch wird damit verdichtet, dass mancher das Land als Kulisse ihrer ästhetischen Produktion nutzt und nicht als sozialen Raum, in den er sich mit seiner Arbeit selbst einbringt.
Letzteres will aber das Theater am Rand: es ist Theater für Land und Leute, auch wenn sie aus der Stadt kommen. Immer hatte es die Bereitschaft, sich auf die lokalen Akteure einzulassen: die Beteiligung an den Kunst-Loose-Tagen der bildenden Künstler des Oderbruchs (hierzu gab man die thematisch abgestimmte Produktion „Seide“ nach der Novelle von Alessandro Baricco), die Empfehlungen für ausgesuchte lokale Gastronomie auf der eigenen Homepage (www.theateramrand.de), der Verkauf von Ziegenkäse aus Zollbrücke. Und käme jemand auf die Idee, an den Oderhängen sauren Wein anzubauen, er fände im Theater am Rand wohl die ersten Verkoster. Solange wir auf diesen noch warten, mag französischer Wein zum Anstoßen dienen: Zum Wohl, geschätztes Haus, auf die nächsten fünf Jahre!
Kenneth Anders