Oh Täler weit, oh Höhen
Rückblick anlässlich der Einweihung eines neuen Bad Freienwalder Aussichtsturms
In der Kulturgeschichte sind Türme im wahrsten Sinne des Wortes herausragende Bauwerke. Der Turm zu Babel, die unzähligen Kirchtürme und Minarette, die Wachtürme auf Burgen und an Grenzen und nicht zuletzt die großen Wolkenkratzer zeigen immer die Herrschaft über eine Landschaft an: hier sind wir, scheinen die mächtigen Menschen durch sie zu rufen, wir bauen am höchsten und haben den Überblick. Die praktischen Funktionen dagegen variieren: der Hochsitz dient der Jagd, der Büroturm der effektiven Verwertung teurer Grundstücke, der Leuchtturm warnt Schiffe in Küstennähe, vom Funk- oder Fernsehturm werden Signale gesendet, der Kirchturm ist Träger von Glocke und Uhr, der Wachturm ermöglicht die Kontrolle eines Areals. Bei vielen Türmen ist der praktische Nutzen nachgeordnet oder sogar zweifelhaft – etwa bei den repräsentativen Kulturtürmen der sechziger Jahre, dem Neubrandenburger „Kulturfinger“ oder dem Leipziger „Weisheitszahn“, dessen Qualitäten als Universitätsgebäude stets umstritten waren. Den symbolischen Wert dieses Turmes, der in Form eines riesigen aufgeklappten Buches die Leipziger Stadtsilhouette bestimmt, stand dagegen außer Frage.
Allen Türmen ist eines gemeinsam: Sie bieten einen mehr oder weniger üppigen Ausblick auf Teile ihrer Umgebung, durch den man zugleich erkennt, dass diese Teile in Beziehung zueinander stehen. Die Felder, Wiesen, Straßen, Bäume, Häuser, Fabriken, Bahnlinien, Seen, Flüsse und Hügel bilden Teile eines Ganzen, das wir Landschaft nennen. Diese Wahrnehmung verdanken wir großenteils den Türmen: Selten reicht es, einfach einen Berg zu besteigen – Berge jenseits hoher Gebirge sind meist bewaldet und bieten nicht unbedingt eine gute Aussicht. Jahrtausendelang dienten deshalb die Bäume selbst als Ausguck. Nachdem sie nicht mehr genügten bzw. zu unbequem wurden, mussten die Türme gebaut werden – und zwar mussten sie nun höher sein als die Bäume, damit sie ihren Zweck erfüllen konnten, oder man musste die Bäume abhauen bzw. die benötigten Sichtachsen freihalten. Türme bieten also nicht nur besondere Perspektiven auf die Landschaft, sie sind auch selbst Eingriffe in dieselbe. Hier schließt sich wieder der Kreis zu ihrer symbolischen Funktion: weil sie aufragen und weithin sichtbar sind, bedeuten sie zugleich immer, dass sich eine bestimmte Gruppe von Menschen in diesem Areal behauptet und seine Interessen für jedermann sichtbar durchsetzt.
Die reinen Aussichtstürme erlebten ihre Blüte im Deutschland des 19. Jahrhunderts, in einer Zeit also, in der das Erleben und Genießen der 0schönen Landschaft in Mode kam. Eine Gegend wurde nicht mehr nur als Lieferant von Bodenschätzen oder Nutzflächen begriffen, sie wurde nun auch als erbaulicher Anblick aufgewertet, wie es in den Jahrhunderten zuvor nur den Parks zukam. Dies ging mit einer entsprechenden Vermarktung einher – der Tourismus wuchs im 19. und 20. Jahrhundert rapide an, überall entstanden Ausflugsziele, eine ganze Infrastruktur aus Bahnen, Kaffees, Bootslinien und Pensionen entstand, wobei die Übergänge zwischen Naherholung und Reisetourismus fließend waren. Die Vermarktung der Landschaft ging auch mit einem veränderten Verhältnis der Landbewohner selbst zu ihrer Umgebung einher. Wenn so viele Menschen hierher kamen, um sie zu genießen, musste sie ja eine wertvolle Eigenart haben. Die heimatpflegerischen Initiativen vieler Landstriche haben hier ihren Ursprung. Die Bewohner der Landschaft begannen so, ihre eigene Umgebung auf eine neue Weise zu lieben und die in ihr gewachsenen Eigenheiten zu bewusst erhalten.
Wollte man den Touristen und Ausflüglern etwas bieten, standen schöne Aussichten ganz oben auf der Prioritätenliste. Das, was allen Türmen gemeinsam ist: dass sie den Überblick ermöglichen, ist zentraler Zweck des Aussichtsturms. Dem Wanderer wird so ein singuläres Erlebnis geboten, er kann sich umschauen und an dem einmaligen Blick seine Freude haben. Aber bei dieser Funktion allein blieb es doch selten, die Aussichtstürme sprechen immer auch von den Sehnsüchten ihrer Erbauer und ragen als Botschaften in den Himmel – als Kriegerdenkmale und romantische Ruinen, die an Caspar David Friedrichs Gemälde erinnern. Oft bediente man sich historischer architektonischer Formen, wo keine mittelalterlichen Burgruinen zu finden waren, baute man eben neue. Der Blick auf die eigene Landschaft war verklärt und gerade dadurch so reizvoll: O Täler weit, oh Höhen!
In diesem Kontext entstanden auch die Bad Freienwalder Aussichtstürme, positioniert an der einmaligen Landschaftskante von Endmoräne und Bruchlandschaft, erbaut für Wanderer und Touristen und zur eigenen Freude. Heimatfreunde, Bürger der Kurstadt hatten sich für ihren Bau engagiert. Der Effekt dieser Türme ist nicht nur, dass sie ihrem Zweck in idealer Weise erfüllen, indem sie eine brillante Perspektive auf das Oderbruch öffnen, sondern dass sie das bürgerliche Engagement der Bad Freienwalder immer aufs Neue praktisch herausfordern – oft waren die Türme und das mit ihnen verbundene Wegenetz vom Verfall bedroht und immer wieder fanden sich Anwohner, die Verantwortung dafür übernahmen und sich um Erhalt und Sanierung bemühten, zuletzt und gegenwärtig im Oberbarnimer Kulturverein. Die Türme bilden also ihre eigene Tradition, in der sich immer wieder Engagement bündelte und auch das Wissen um ihre Entstehungsgeschichte zusammengetragen wurde.
Der Wackelturm des Hauses der Naturpflege war wohl der bescheidenste Aussichtsturm des Bad Freienwalder Turmensembles und sicher der mit den geringsten Baukosten. Darauf hatte Kurt Kretschmann besonderen Wert gelegt: Eine Tafel, die an dem Turm angebracht war, unterrichtete den Besucher darüber, dass ganze neun Mark für Nägel und Klammern ausgereicht hatten, das am Hang geworbene Robinienholz zusammenzuzimmern: empfohlen zur Nachahmung. Nicht weniger erstaunlich ist das Alter, das dieser schlichte und in seiner knorrigen Form reizvolle Turm erreicht hat: über vierzig Jahre lang wurde er von tausenden Besuchern genutzt und war somit bei seinem Abriss vor wenigen Wochen so alt wie der Schau- und Lehrgarten selbst. Eine Sanierung der bestehenden Substanz war nicht möglich – vor allem nicht unter den Bedingungen der gegenwärtigen Bauvorschriften für öffentliche Gebäude.
Das Haus der Naturpflege verfügte in seinen ersten Jahren noch über eine weitere Aussichtsplattform, die stolz über den Boasberg ragte und den Blick in die Landschaft geradezu feierte: Jeder sollte kommen und schauen, ganz gleich, wes Geistes Kind er war. Kurt und Erna Kretschmann haben als Naturschützer, Pazifisten und Vegetarier manch neuen und vielleicht auch umstrittenen Impuls in die Stadt gebracht – sie stehen aber auch ganz und gar in der heimatpflegerischen Tradition derer, die die älteren Türme Bad Freienwaldes errichtet hatten: Liebe zur eigenen Umgebung und Genuss der heimischen Welt waren ihnen ebenso wichtig wie ihren Vorgängern – beides ist hier unter den Bedingungen des zwanzigsten Jahrhunderts neu belebt und behauptet worden. Und auch jene, die das Haus der Naturpflege heute erhalten und entwickeln, verkörpern diese Werte.
Das Glück und ein günstiger Moment im Brandenburger Umweltministerium waren dem Verein hold – mit Lottomitteln des Landes konnte ein Nachfolger gebaut werden – der Eulenturm, dessen Name daran erinnern soll, dass die Naturschutz-Eule von hier aus zu einer fünfzigjährigen Erfolgsgeschichte ausflog. Die Plattform ist zwei Meter höher als die seines Vorgängers und in stabiler Fachwerkbauweise ausgeführt – das Wackeln wird also nicht mehr in so hervorstechender Weise den Aufstieg prägen. Der Turm ist ein herausragendes Beispiel regionalen Wirtschaftens – erbaut von einem Unternehmen, dass die Regionalmarke des Biosphärenreservates Schorfheide-Chorin trägt, aus Hölzern, die nur 300 m vom streng geschützten Plagefenn geschlagen worden sind.
Die Einweihung des Turms, heute, am 18. Oktober 2003, sollte als Gelegenheit wahrgenommen werden, den oft behaupteten Gegensatz zwischen dem kurstädtisch-kulturellen Gesicht Bad Freienwaldes und seiner jüngeren Naturschutzgeschichte als Irrtum kenntlich zu machen. Das Haus der Naturpflege ist nicht einfach ein eigentümlicher, beinahe exotischer Garten am Rand der Stadt – es hat vielmehr einen entscheidenden Beitrag zu ihrer landschaftlichen Identität geleistet.
Kenneth Anders
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