Die Kirche
Neulietzegöricke ist das älteste Kolonistendorf des Oderbruchs, das nach der Eindeichung der Oder 1753 entstand. Wer durch das Dorf fährt, kommt unweigerlich an der Kirche vorbei; sie steht inmitten des Dorfes und strahlt in hellem Beige. Allerdings ist sie nicht so alt wie das Dorf. Das 1769 erbaute einfache Bethaus war schon 13 Jahre später einsturzgefährdet. An gleicher Stelle entstand ein zweites Bethaus als solider Fachwerkbau mit Orgel. Diese Kirche mitsamt der Orgel wurde im Jahr 1832 Opfer eines verheerenden Dorfbrands.
Die Neulietzegöricker fassten aber erneut Mut und beschlossen, eine dritte Kirche zu bauen. Dieser für 350 Personen ausgelegte spätklassizistische Kirchensaalbau wurde 1840 in Dienst genommen und steht bis heute. Sie wurde vom Wriezener Baumeister Karl August Schwieger konzipiert als Fachwerkbau, der außen mit einer Halbsteinwand verblendet wurde. Die Ziegel, hier vor Ort gebrannt, waren aber von so schlechter Qualität, dass das Mauerwerk verputzt werden musste. So entstand die heute rekonstruierte neoklassizistische Stuckfassade, die der Kirche den Anschein eines Massivbaus gibt. Im Inneren jedoch ist der Fachwerkcharakter sichtbar.
Als eine der wenigen Kirchen im Oderbruch ist die Farbfassung aus der Bauzeit im Innenraum erhalten. Lediglich die Bänke wurden 1906 neu gestrichen.
Der Einschlag einer Granate im April 1945 hattezum Glück nur leichten Schaden angerichtet, der notdürftig repariert wurde. Da der Kirchengemeinde in der DDR weder die finanziellen Mittel noch die Handwerker und das Material zur Verfügung standen, dauerte es gut 75 Jahre, bis die Kirche Neulietzegöricke umfassend saniert werden konnte.
In der Zwischenzeit konnten das Absacken der Kirche durch eine Unterfütterung der Fundamente mit Kalksäulen aufgehalten und die zunehmende Wölbung der Außenwände durch Stahlseilverspannungen im Inneren aufgehalten werden.Als Erinnerung ist dieWunde im Balken, die diese Granate verursacht hat,bei der Sanierung 2010/11 bewusst erhalten worden.
Heute wird die Kirche für Gottesdienste, Konzerte und Veranstaltungen genutzt.
Die Glocken
„Mich goß J. Wolff in Königsberg N.-M.1840 Dom. Rentmstr. Herr Hagedorn. Herr Oberprediger Rißmann. Soli Deo gloria“ So lautet die Inschrift der Glocke in Neulietzegöricke und lässt vermuten, dass sich Herr Hagedorn, Beamter der Finanzbehörde aus Wriezen, und Pfarrer Rißman, aus Neuküstrinchen für die Anschaffung der Glocke verantwortlich zeichnen. Johann Wolff war einer der vielen Glockengießer in Königsberg Neumark, dem jetzigen Chojna in Polen und „Soli Deo gloria“ bedeutet „Gott allein gebührt die Ehre“.
1911 wurde eine zweite Glocke ergänzt, gegossen in Apolda von der Firma Schilling, aber bereits wenige Jahre später, im ersten Weltkrieg, konfisziert und zu Waffenzwecken eingeschmolzen. Erhalten geblieben sind nur zwei Löcher für die beiden Seile zum Antrieb der Glocken.
Heutzutage wird die Glocke per Motor in Gang gesetzt. Automatisch wird samstags 18 Uhr mit dem traditionellen „Feierabendläuten“ dazu aufgerufen, die Arbeit niederzulegen. Das Geläut wird auch zusätzlich per Schalter zu Beginn eines Gottesdienstes und im Todesfall von Gemeindemitgliedern in Gang gesetzt. Um 11 Uhr wird am Todestag bzw. Folgetag laut Volksmund „die Seele ausgeläutet“, damit werden auch die Anwohner von einem Todesfall in Kenntnis gesetzt. Im Rahmen der kirchlichen Beerdigung wird schließlich zu Beginn geläutet und wenn der Sarg in die Erde gelassen wird. Ein außergewöhnlicher Anlass in 2022 war ein tägliches 12-Uhr-Friedensläuten anlässlich des Ukraine-Krieges.
Audio: Die Feierabendglocke der Kirche Neulietzegöricke
Die Objekte
Dinse-Orgel
1843 erhielt die Kirche eine Orgel der Berliner Orgelbaufirma Lang & Dinse. Die Orgel wurde von der Berliner Orgelwerkstatt Dinse als Instrument speziell für die Dorfkirche Neulietzegöricke erbaut. August Ferdinand Dinse war Geselle bei August Buchholz in Berlin und machte sich 1839 zusammen mit Wilhelm Lang, seinem Schwiegervater, in Berlin selbständig. Die Firma Dinse zählte zu den bedeutendsten Berliner Orgelbaubetrieben und existierte bis 1932. Im Ersten Weltkrieg wurden die vorderen Zinnpfeifen im Prospekt als Metallabgabe für die Waffenproduktion eingeschmolzen. An ihrer Stelle wurden 1920 vom Eberswalder Orgelbauer Karl Gerbig einfache Zinkpfeifen eingebaut. Einige dieser Zinkpfeifen und wenige Holzpfeifen, in den Tonlagen f, g und h, die bei der Orgelsanierung 2016/17 nicht mehr verwendungsfähig waren und deshalb ausgetauscht wurden,sind noch vorhanden.
Um 1950 erfolgte vermutlich ebenfalls von Karl Gerbig eine Instandsetzung und Umdisponierung der Orgel. Ab 1955 war auch der legendäre Orgelbauer Reinhold Klenke aus Cottbus auf Bitten des Pfarrers Ebeling, der das Orgelspiel beherrschte, hieram Werk. Er nahm für Kost und Logis nötigste Reparaturen vor, um die Orgel wieder spielbar zu machen und schloss 1957 ein elektrisches Gebläse an. Die Orgel befindet sich trotz ihres Alters in noch benutzbarem Zustand. Die originale, solide Qualität ist immer noch erkennbar. Allerdings funktionieren 3 Register nicht mehr, einige Pfeifen fehlen, andere wurden in den 50er und 60er Jahren des vorigen Jahrhunderts nur provisorisch ersetzt.
2016/17 erfolgte eine rekonstruktive Restaurierung der Urdisposition und der Einbau eines neuen Zinnprospektes durch den Orgelbauer Christian Scheffler aus Sieversdorf. Die fachgerechte Sanierung der Orgel wurde überwiegend aus Spendenfinanziert.
Foto Alex Schirmer
Gisela Sommer vom Gemeindekirchenrat wurde im Rahmen des Workshops „Kunst trifft Kirche – digitales Erzählen stärken“ von Jugendlichen zur Geschichte der Dorfkirche und insbesondere zur Orgel befragt. Die Jugendlichen sammelten verschiedenste O-Töne zu den Kirchen im Netzwerk Europäisches Kulturerbe Oderbruch. Hören Sie hier Ausschnitte aus dem Gespräch.
Organola
Die beste Pflege einer Orgel ist sie zu spielen bzw. spielen zu lassen. Leider gibt es im Ort keinen Organisten und die Orgel konnte nur sporadisch zu Gottesdiensten und zu Heiligabend erklingen, berichtet Frau Sommer. Da sich die Gemeinde auch zukünftig keinen Kantor oder Organisten wird leisten können, wurde nach eingehenden Beratungen im Gemeindekirchenrat 2018 entschieden, aus Spendenmitteln eine mobile Organola herstellen zu lassen. Seitdem kann die Orgel sowohl über eine passgenauhergestellte Mechanik elektronisch gesteuert gespielt werden als auch von menschlicher Hand zum Klingen gebracht werden. Allerdings kann die Organola, im Unterschied zum Menschen, die Pedale nicht bedienen, die Mechanik spielt nur die Tastatur.
Die Organola wurde vom Ingenieur-Büro Klaus Holzapfel in Ziertheim-Reistingen (Bayern) konstruiert und eingebaut. Für das Spiel der Organola kann auf verschiedene Dateien zurückgegriffen werden, darunter auf fast das gesamte evangelische Gesangbuch.
Foto Alex Schirmer
Der Kanzelaltar
Der schlichte Kanzelaltar mit einem Schalldeckel in Form einer Krone ist aus dem Jahr 1840. Seine marmorierte Farbgebung ist original.Der Zugang zur Kanzel erfolgt über eine Treppe von der kleinen Sakristei aus, die sich rechts vom Altar befindet.
Das hölzerne Taufbecken mit inschriftloser kupferner Taufschale stammt ebenfalls aus dem Jahr 1840.
Foto Alex Schirmer
Kriegsschäden an einem Balken auf der Empore
Ende des Zweiten Weltkrieges im April 1945 soll, so die Überlieferung, eine Granate schräg unter dem Dach eingeschlagen, durch diesen Balken geflogen und im Orgelprospekt gelandet sein. Es gibt Stimmen, dass eine Granate einen viel größeren Schaden angerichtet hätte. Vielleicht war es auch „nur“ ein großer Granatsplitter, der die Kirche getroffen hat. Als Erinnerung ist diese„Wunde im Balken“ bei der Sanierung 2010/11 bewusst erhalten worden. Die Orgelbauer, die 2017 die Dinse-Orgel umfänglich sanierten, haben im Holz im Inneren des Instrumentes einen Metallsplitter gefunden und herausgeholt, von dem sie annehmen, dass es sich um einen Granatsplitter handelt. Dieses Metallstück wird von der Kirchgemeinde aufbewahrt.
Foto Alex Schirmer
Feierabendsteine und weitere Bauelemente aus der Bauzeit
Im Zuge der Kirchensanierung wurden von engagieren Gemeindemitgliedern alte Bauelemente gesichert. Darunter auch dieser Feierabendstein, der auf dem Kirchendach verbaut war. Es handelt sich um einen mit halbkreisförmigen Elementen verzierten Biberschwanz aus Ton. Es fanden sich mehrere Feierabendsteine mit unterschiedlichen Verzierungen: Sonnen, Streifen, Wellenlinien.
Auch handgeschmiedete Nägel, Fensterhalterungen, Formsteine in Sonderformaten und andere Dinge wurden gesichert und sollen zukünftig in einer kleinen Ausstellung präsentiert werden.
Foto Alex Schirmer
Teil eines Ameisenstaates
Dieses handtellergroße Stück eine Holzameisenstaates stammt aus einem Balken der Kirche, der in der Sanierung ersetzt wurde. Die Ameisen hatten dem Bauwerk vor allem am Turm stark zugesetzt. Die Arbeiterinnen des Ameisenstaates bauen aus einer Masse, die vor allem aus zerkautem Holz und Zucker besteht, ein sogenanntes Kartonnest. Sie nagen Hohlräume in das Holz und befüllen sie mit dieser schwärzlichen Masse.
Foto Alex Schirmer
Modell der Kirche Neulietzegöricke
Dieses ca. 40 cm hohe, bescheidene Modell der Kirche Neulietzegöricke wurde von Stefan Weber gebaut, dem Sohn des langjährigen Pfarrers Weber, der sein gesamtes Pfarrerleben in Neulietzegörike seinen Dienst getan hat, 40 Jahre. Stefan Weber lebt heute in Berlin und Neulietzegöricke.
Foto Alex Schirmer
Quellen
G. Bauer, Gisela Sommer, Dirk Steffens und Udo Schagen (Hrsg.): Kirchen im Nieder-Oderbruch Zentren unserer Dörfer, Altwustrow 2024
Reinhard Schmook: Kirchen und Gemeindehäuser im Evangelischen Kirchenkreis Oderbruch. Findling Verlag. Kunersdorf 2012
weiter Links:
www.neulietzegoericke.de/info/Orgelsanierung
www.orgellandschaftbrandenburg.de/orgelinventar
Vielen Dank an Gisela Sommer, Neulietzegöricke
Diese Kirche war auch Teil des Projektes „Klingende Kirchen im Oderbruch“, das Anne Göhring von LAND-LAB in Zusammenarbeit mit örtlichen Vereinen und Gemeindekirchenräten im Jahresthema 2024 KIRCHE für ausgewählte offene Kirchen umgesetzt hat. Die sakralen Kirchenräume wurden zum Klingen gebracht, um interessierte Besucherinnen und Besucher auf akustisch-emotionaler Ebene ansprechen. Dazu wurden (Laien-) Musiker bzw. Musikvereine eingeladen, gemeinsam eine kleine Musikauswahl aufzuzeichnen. Hören Sie die Ergebnisse.
Es musiziert der Kirchenchor des Kolonistendorfes unter der Leitung von Christiane Moritz, Kantorin für den Bereich Wriezen. Sie hat ebenfalls ein Stück auf der Orgel aus der Berliner Werkstatt Dinse eingespielt.