Greift die Oder ins Elbegebiet?
Claus Dalchow und Joachim Kiesel
Als […] die Mark Brandenburg in Folge des dreißigjährigen Krieges den größten Drangsalen ausgesetzt war […], konnte auf die Erhaltung des ersten Finow-Kanals und seiner Schleusen keine Sorgfalt, noch weit weniger aber Kosten verwendet werden. Eine natürliche Folge war, dass die eben erst hergestellte Wasserstraße in Verfall gerieth und die Schleusen unbrauchbar wurden. […]
Das Wasser stürzte also mit großem Ungestüm aus der Havel durch die Finow nach der Oder, wodurch nicht nur große Überschwemmungen entstanden, sondern auch die Finow unterhalb Neustadt-Eberswalde, besonders jenseits Nieder-Finow dergestalt versandete, dass sie fast gar nicht mehr mit Kähnen befahren werden konnte. (Berghaus 1855, Bd. III, S. 190f)
Einleitung
Wie hat sich seit dem Ende der letzten Eiszeit das Flusssystem der Oder gebildet bzw. umgebildet? Ist die Anpassung an die heutigen, warmzeitlichen Rahmenbedingungen schon vollständig erreicht? Oder stehen noch große Umbildungen innerhalb des Flusssystems oder gar zwischen benachbarten Hauptflussgebieten Nordmitteleuropas bevor? Welche Rolle spielte das Oderbruch in der Umstellung von kaltzeitlichen Fliesswegen einstiger Schmelz- und Flusswässer zur heutigen Situation, und was würden weitere mögliche Veränderungen für das Oderbruch bedeuten?
Die folgende Abhandlung will diese Fragen erörtern und darüber hinaus auch die willentliche und unwillentliche menschliche Einflussnahme (s. Zitat am Textbeginn) auf langfristige Wandlungsprozesse herausarbeiten.
Aktuelle Situation: Getrepptes und ostlastiges Einzugsgebiet
Schon bei erster Betrachtung fällt auf, dass der „Baum“ der Oderzuflüsse ausgesprochen ostlastig ist: zur mittleren Oder bis Ratzdorf, und in südlicher Fortsetzung zur Lausitzer Neiße gibt es von Westen nur kleinste, kurze Zuflüsse. Der Flussbaum der Oder ist westseitig völlig unterentwickelt, die Oder ab Ratzdorf fließt dicht am Rand ihres Einzugsgebietes (nur 4,7 % der Fläche liegen westlich der Linie Oder-Neiße). Das überraschende Ausmaß dieser für einen Flachlandfluss untypischen Asymmetrie seiner Zuflüsse wurde den Verfassern bei zufälliger Betrachtung einer Kartenkopie unbekannter Quelle (Abb. 1) deutlich; diese Karte war damit Auslöser der folgenden Darlegungen.
Ein aktueller Effekt der geometrischen Besonderheit in Überlagerung mit den politischen Gegebenheiten ist z. B., dass Abflussmengen in ihrer Entstehung nur auf polnischem Staatsgebiet nennenswert beeinflusst werden können. Dieser Umstand fand unter den Stichworten Wasserrückhalt und Versiegelung nach dem 1997er Hochwasser Eingang in die öffentliche Diskussion. Überspitzt ließe sich aus Sicht des westlichen Ufers von der Oder sagen, sie stelle sich als „Fremdlingsfluss“ dar.
Das gilt im übrigen genau so für die Verfügbarkeit des von der Oder gelieferten Wassers: Noch vor zwanzig Jahren war jede zusätzliche Inanspruchnahme von Oderwasser durch die deutsche Seite, etwa für Bewässerungsvorhaben, mit der polnischen abzustimmen, um den „Proporz“ zu wahren, der sich aus den unterschiedlichen Einzugsgebietsflächen ergibt. Auch in die Wasserbilanz des Landes Brandenburg geht demzufolge das Oderwasser nur anteilig ein; der deutlich größere Rest fließt außerhalb der Landesgrenze „einfach vorbei“.
Ein anderer Effekt der Asymmetrie ist der Umstand, dass von Berlin aus, trotz geringer Distanz, die Oder nicht auf durchgehend natürlichen Wasserwegen erreichbar ist. Dies gab seit über 300 Jahren Anlass zu Kanalbauten bzw. Erweiterungen des Kanalnetzes.
Eine tiefere Betrachtung zeigt, dass die Asymmetrie auch bei den Höhenlagen der Nebenflüsse besteht: Östlich strecken sich die Zuflüsse laufaufwärts nur mit ganz gemächlichem Anstieg dahin, während die kleinen Zuflüsse westlich der Oder mit der begleitenden Landschaft schnell zur Zehnermeter höher gelegene Wasserscheide hinaufreichen. Hinter dieser westlichen Wasserscheide aber verlaufen die Elbzuflüsse (Havel, Spree) in einem über lange Strecken weit höherem Niveau als die Oder.
Entstehung durch erste Phase des Flussnetzumbaus
Mit dem Abschmelzen der Gletscher der jüngsten Vereisung (Weichseleiszeit; im Umfeld des Oderbruchs von 18.000 bis 14.000 Jahren vor heute) bildeten sich nacheinander mehrere breite eisrandparallele Abflussbahnen, in denen das Schmelzwasser jeweils nach Westen und Nordwesten zum Weltmeer abfloss: die Urstromtäler (Abb. 2).
Im Betrachtungsgebiet sind dies im Süden das Warschau-Berliner Urstromtal, heute auf polnischer Seite bis Ratzdorf von der Oder, weiter westlich von Schlaube und Spree durchflossen. Nördlich parallel verläuft das Thorn-Eberswalder Urstromtal, heute von Netze und Warthe, ab Küstrin von der Oder und weiter westlich von Finow, Havel und Rhin durchflossen.
Das Oderbruch bildet – ungeachtet seiner Sonderstellung hinsichtlich Breite und Tiefe gegenüber dem Umland – damit ein Segment des Thorn-Eberswalder Urstromtales. Mit dem Rückschmelzen des Eisrandes wurden beide Urstromtäler hinsichtlich der Schmelzwasserabfuhr nacheinander funktionslos. Darüber hinaus kam mit dem sukzessiven eisfrei Werden Nordmitteleuropas und schließlich des Ostseebeckens auch eine Landschaft ans Licht, die eine nördlich gerichtete Hauptneigung besaß.
Die Urstromtäler boten nun zwar immer noch ihr schwaches, durchgehendes Gefälle nach Westen, aber sie folgten damit nicht der nun bestimmenden Nordabdachung der eisfreien Landschaft zum Ostseebecken.
Die Urstromtäler führten während der Weichseleiszeit zusätzlich zum Schmelzwasser, welches ihnen von Norden zufloss, auch den Abfluss aus den eisfreien Landoberflächen südlich des Eiskörpers (dem Gletschervorland) ab. „Vorlandflüsse“ mit ähnlich gelegenen Oberläufen wie heute speisten ihr Wasser von Süden in die Urstromtäler. Dabei folgten Vorlandflüsse aber nicht immer unmittelbar in jeweils nördlich neu gebildete Urstromtäler; der Schmelzwasserabfluss und der Vorlandabfluss waren in ihrem „Nachrücken“ nicht zwingend verbunden.
Der Grund dieser partiellen Entkopplung (angesichts der an sich günstigeren Gefällesituation bei nordwärtigem Fließen) sind spezifische, kombinierte Prozesse, die nicht zeitgleich mit dem Weiterrücken des Schmelzwasserabflusses in ein nördlicher gelegenes, neu entstehendes Urstromtal auftreten.
Im Resultat der Prozessbetrachtungen zur Flussverlagerung halten Dalchow und Kiesel (2005) fest, dass die Vorlandflüsse mit dem Rückschmelzen des Eisrandes nicht zwangsläufig aus der Urstromtalrichtung nach Norden „durchbrechen“ oder gar „einschwenken“, wie bisweilen geschrieben wird. Stattdessen muss sich jede einzelne „Nordpassage“ individuell ausbilden, wahrscheinlich unter maßgeblicher Beteiligung des Prozesses der Flussanzapfung (Abb. 3 u. 4).
Ein Blick auf das aktuelle Flussnetz belegt augenfällig die „Anhänglichkeit“ auch noch der heutigen Flüsse an die Urstromtäler (Abb. 2). Nur an ausgewiesenen Stellen, oft nach langen westlich verlaufenden Fließstrecken in den Urstromtälern, haben sich Nordpassagen etabliert. Das Eis ist seit über 14.000 Jahren aus dem Betrachtungsraum verschwunden, die Flussverläufe tragen aber bisher nur abschnittsweise der eisfreien Landschaftssituation Rechnung.
Dieser Befund bietet die Erklärung der eingangs beschriebenen Asymmetrie der Oderzuflüsse: Der Verlauf der Oder ab Ratzdorf und oberhalb anschließend die Lausitzer Neiße erhalten als stark eingetiefte Nordpassage regelhaft Zuflüsse über östlich angeschlossene Urstromtalsegmente, welche ihre Höhenlage auf die Nordpassage eingestellt haben. Die unmittelbar westlich anschließenden Urstromtalfortsetzungen haben dagegen die Charakteristik „geköpfter Täler“ (Abb. 4) mit einer Talwasserscheide nahe der Stelle ihrer Abtrennung. Einhergehend mit seiner Abtrennung wird das geköpfte Tal sukzessive von der tiefer liegenden Nordpassage aus eingeschnitten (ein Umstand, der in der zweiten Phase des Flussnetzumbaus große Bedeutung erlangt).
Nach einem undurchflossenen („toten“) Urstromtalstück finden sich nach Westen bald kleinere Flüsse, welche in das Urstromtal einmünden und es ohne nennenswerte eigene Eintiefung nutzen. Da sich diese Wasserläufe in einem offensichtlich viel zu großen Tal bewegen, werden sie als unterproportionierte Flüsse (underfit streams) oder „Kümmerflüsse“ (Abb. 4) bezeichnet.
Weitere Nordpassagen leiten an vielen Stellen die heutigen Abflüsse in das jeweils nördlichere Urstromtal, woraus sich das innerhalb seiner Ostlastigkeit charakteristisch getreppte Flussnetz ergibt.
Die dominante Nordpassage der Oder hat sich von einer gegenüber heute viel tiefer liegenden Erosionsbasis im Ostseebecken bilden können. Die Vorflut lag in der ausgehenden Weichseleiszeit im Ostseebecken zeitweise bis zu 84 m unter dem heutigen Meeresspiegel! Einschneidungen des Odertales bis auf mindestens -50 m NN bei Gartz und -20 m NN im mittleren Oderbruch (Brose 2005) verdeutlichen, welch starkes Eintiefungspotenzial der Oder bei ihrer nacheiszeitlichen Talbildung zur Verfügung stand.
Zusammenfassend lässt sich das aktuelle Flussnetz der Oder (wie auch das der Weichsel und in Teilen das der Elbe) als Ergebnis einer erst teilweise vollzogenen Umstellung der eisrandparallelen Entwässerung zu nördlichen Fliessrichtungen charakterisieren.
Wo Nordpassagen Urstromtäler an die Ostsee anschliessen (s. besonders auch den Verlauf der unteren Weichsel) oder Urstromtäler untereinander verbinden, werden in den Urstromtälern verlaufende Flüsse abrupt nach Norden geleitet. Diese systemhafte Komponente lässt sich in einer Schematisierung der Flussnetze und Urstromtalverläufe im Stile von Streckenplänen verdeutlichen (Abb. 5).
Die Bereiche, wo die Urstromtäler die Hauptwasserscheide benachbarter Flussgebiete kreuzen, bilden Pforten zwischen diesen Flussgebieten. An diesen Pforten verläuft die sonst von größeren Höhen getragene Wasserscheide als niedrige Talwasserscheide über breite, heute unbeflossene Talböden. In Abb. 6 sind zwei in hergeleiteter Weise entstandene Pforten (Eberswalder und Müllroser Pforte) dargestellt. Bezüglich der weiteren Flussnetzumgestaltung können diese Pforten die Eigenschaft von „Sollbruchstellen“ erlangen.
Zusätzlich ist in Abb. 6 trotz leicht abweichender Entstehung noch die Buckower Pforte markiert. Sie gilt als Rest einer ursprünglich vom Eisrand nordöstlich des Oderbruchs zum Berliner Urstromtal führenden Schmelzwasser-Rinne. Daher zeigt sie stärkere Neigung und geringere Breite als die beiden anderen Pforten.
In diesem Kräftefeld ist das Oderbruch ein Segment des Thorn-Eberswalder Urstromtals, welches in die späteiszeitlich gebildete Nordpassage der heutigen Oder einbezogen wurde. Dadurch hatte es Teil an einer enormen Einschneidung und teilweisen Wiederauffüllung des unteren und mittleren Odertals. Im Resultat liegt die Oder im Bereich des Oderbruchs damit tiefer als wenn dort lediglich eine Urstomtalbildung gewirkt hätte. Weitere Erörterungen der Forschung zu Formungskräften bei Schaffung und Erhaltung der singulären Großform des Oderbruchs (Zungenbecken, Konservierung durch Toteis) behalten ungeachtet dieser generellen Betrachtung ihre Gültigkeit bzw. Möglichkeit.
Konservierung der Situation im Holozän
Eine geschlossene Walddecke und später eine mit den Rodungen einhergehende Pflege der Wasserläufe bewirkten in der Nacheiszeit (bzw. neuen Warmzeit, dem Holozän), einen morphodynamisch stabilen bzw. höchstens teilaktiven Landschaftszustand. Zudem war mit Abtauen der letzten eiszeitlichen Gletscher der Meeresspiegel (als Hauptvorflut) etwa auf heutiges Niveau gestiegen. Damit hielt die Formveränderung inne, neue Nordpassagen konnten sich nicht ausbilden. Der beschriebene getreppte und ostlastige Zustand des Flusssystems der Oder sowie ihrer großen Nachbarflüsse wurde konserviert, als Übergangszustand gewissermaßen „eingefroren“.
Nutzung des Talungssystems für Kanalbauten
Die Pforten zwischen den Haupteinzugsgebieten im Zuge der Urstromtäler (Abb. 6) wurden früh als best geeignete Pässe für den Wasserstraßenbau erkannt. Aus dem Bestreben, eine Wasserstraßenverbindung zwischen Oder und Elbe zu schaffen, später auch, um Berlin einen günstigen Meeresanschluss über Stettin zu geben, resultierten mehrphasige Kanalbauten zwischen Havel und Oder durch die Eberswalder Pforte (ab 1605) sowie zwischen Spree und Oder durch die Müllroser Pforte (ab 1558). Die Buckower Pforte blieb ohne Wasserweg, war aber von 1740 bis zum Ende des 19. Jh. wiederholt Gegenstand detaillierter Kanalplanungen.
Im Blick auf die Schlussfolgerungen im übernächsten Kapitel ist zu beachten, dass die ersten Kanalbauten durch die Eberswalder Pforte von der Havel aus nur absteigende Schleusen (bis zu 16 für 36 m Höhenunterschied) besaßen. Im jüngsten Kanal wurde dieser Abstieg dagegen in einem Punkt, dem Schiffshebewerk Niederfinow, zusammengefasst.
Die Kanalführungen durch die Müllroser Pforte (Abb. 7) verliefen mit einem leichten Anstieg des Kanalspiegels an der Pforte und über 12 m tiefem Abstieg zur Oder. Beim derzeitigen Kanalbau liegt aber dennoch der höchste Bereich der Kanalsohle noch knapp unter der mittleren Wasserhöhe der Spree im Unterwasser der Kersdorfer Schleuse (genaue Angaben s. Dalchow und Kiesel 2005).
Zweite, zukünftige Umbauphase des Gewässernetzes
Eine nennenswerte weitere Umformung des asymmetrisch „eingefrorenen“ Gewässernetzes bedarf eines erneuten Zustandes geomorphodynamischer Aktivität, d. h. rascher Formveränderung der Oberfläche, wo Gefälle und Höhenunterschiede vorliegen. Geomorphodynamische Aktivität kann durch Klimawandel, tief greifende Übernutzung oder sonstige Einschränkungen der Stabilität der Landober-fläche, insbesondere der Vegetationsdecke, hervorgerufen werden. Sie wirkt auf das Gewässernetz u. a. durch Einreißen von Schluchten bei Starkregen (wie heute in Halbtrockengebieten geläufig).
Die Pforten würden als „Sollbruchstellen“ dann von rasch durch rückschreitende Erosion wachsenden Tälern westlicher Zuflüsse der Oder durchnagt (Abb. 8). Antrieb dieser schnellen Talentwicklung wäre dabei zum einen der große Höhenunterschied vom Oderniveau zum geköpften Urstomtalabschnitt, zum anderen die Sammlung von Oberflächen- sowie Grundwasser mit bodenmechanisch destabilisierender Wirkung in der lang gestreckten Sattellage der Pforten. Von Westen her dürfte aufgrund der weit schwächeren Gefällesituation ein entsprechender Prozess in Richtung der Talwasserscheide unterbleiben.
Die sich in westlicher Richtung in die geköpften Urstromtalsegmente eintiefenden Täler würden schließlich Nebenflüsse der Elbe erreichen und durch Anzapfung zur Oder umleiten. Aufgrund augenfälliger Ähnlichkeiten in Form und Wirkung bezeichnen wir die betreffenden Täler nachfolgend als „Anzapfungsklingen“ (Abb. 8).
Die Pforten verwandeln sich mit der Tätigkeit der Anzapfungsklingen in „Anzapfungskorridore“ (Abb. 9). Der aktuelle Zustand der Anzapfungskorridore zeigt, dass die Anzapfungsklingen bereits eine erhebliche Ausdehnung gewonnen haben und damit ein Teil der Anzapfungsarbeit bereits geleistet ist:
Eberswalder Pforte / potenzieller Anzapfungskorridor Oder – Havel
Aktuelle Rahmenbedingung sind 36 m Höhenunterschied über 39 km Distanz (Abb. 10, 11 u. 12). Die Anzapfungsklinge der Finow (größtenteils in den Finowkanal einbezogen) hat über die ersten 25 km (bis Ruhlsdorf) bereits das Havelniveau unterschnitten. Die verbleibende Geländebarriere ist maximal 3 m hoch.
Buckower Pforte / potenzieller Anzapfungskorridor Oder – Spree
Aktuelle Rahmenbedingung sind 30 m Höhenunterschied über 31 km Distanz (Abb. 13 u. 14). Die Anzapfungsklinge des Stobber hat auf den ersten 12 km (bis Waldsieversdorf) bereits das Spreeniveau unterschnitten. Die verbleibende Geländebarriere ist maximal 12 m hoch.
Müllroser Pforte / potenzieller Anzapfungskorridor Oder – Spree
Aktuelle Rahmenbedingung sind 17 m Höhenunterschied über 21 km Distanz (Abb. 15 u. 16). Die Anzapfungsklinge der Schlaube (in den Friedrich-Wilhelm-Kanal einbezogen) hat über die ersten 8 km (bis Schlaubehammer) bereits das Spreeniveau unterschnitten. Die verbleibende Geländebarriere ist maximal 4 m hoch.
(Die bisher vorliegende Einschneidung der Anzapfungsklingen hat sich ganz überwiegend noch in der ausgehenden Eiszeit ereignet, und zwar mit oder unmittelbar nach der Bildung der Nordpassage der Oder, unter geomorphodynamischen Aktivitätsbedingungen des späteiszeitlichen Tundrenklimas und tiefer liegendem Ostseespiegel.)
Bei Weiterbildung der Anzapfungsklingen wird die Geländeschwelle, die „Anzapfer“ und „Anzapfungsopfer“ trennt, immer schmaler und niedriger werden. Die Anzapfung und damit Umleitung der Havel bzw. Spree darf man sich als durchaus abrupten Vorgang denken: eines bestimmten Tages tritt das Wasser des hochgelegen fließenden Flusses in die herangenahte Anzapfungsklinge über; das Ufer bricht fort oder ein Hochwasser hat das Überlaufen in die Anzapfungsklinge ausgelöst. „Wasser hat einen spitzen Kopf“ heißt es sehr richtig – die Umlenkung ist unumkehrbar vollzogen! Die Anzapfungsklinge hat nun stark erhöhten Abfluss (verstärkt vom Anzapfungsopfer), die rückschreitende Erosion erhält neue Nahrung, das Tal des Anzapfungsopfers fällt unterhalb der Anzapfungsstelle trocken. Die veränderten Wasserstände beeinflussen auch die Ökologie der weiteren Umgebung.
Soweit die Beschreibung des Szenarios des künftigen Flussnetzumbaus, welches sich z. B. unter subarktischen Bedingungen während des Beginns einer erneuten Eiszeit innerhalb weniger Jahrtausende realisieren könnte, aber auch infolge anderer natürlicher oder menschlich verursachter Veränderungen der heutigen, Landschaftsstabilität gewährleistenden Rahmenbedingungen.
Das Anzapfen von nahe gelegenen Wasserläufen des westlich anschließenden Flusseinzugsgebietes lässt auf lange Sicht die Einzugsgebiete der Hauptflüsse an Symmetrie gewinnen. Nach vollzogener Anzapfung der oberen Spree und der oberen Havel würde sich das Odereinzugsgebiet westlich der Linie Oder – Neiße von 4,7% auf über 11% des – dann insgesamt angewachsenen – Einzugsgebietes mehr als verdoppeln. Damit wäre ein weiterer Schritt zum Abbau der eiszeitlichen Prägung des Einzugsgebietes vollzogen, Landschaft und Flussnetz hätten ihre „Jugendlichkeit“ (d. h. frisch der Eiszeit entwachsen) ein weiteres Stück abgelegt, sie wären „gereift“ zu einer stärker ausgeglichenen Landschaft ohne Höhensprünge und Asymmetrien. Gleiches geschähe am östlichen Rand des Odergebietes, wo Teile an die Weichsel abgetreten würden.
Ein erneuter Eisvorstoß freilich würde der skizzierten Entwicklung ein Ende bescheren, die Landschaft erhielte wieder ein Zurücksetzen auf den Ausgangszustand, ein „reset“.
Kanalbauten können natürliche Entwicklung beschleunigen
Genau jene Urstromtalsegmente, die bei der zweiten Umbildungsphase des Flussnetzes von den „Anzapfungsklingen“ durchschnitten würden, sind seitens des Menschen oft längst durch Kanalbauten verändert worden.
Eine Analyse der Höhenlage der Kanalsohlen (Dalchow und Kiesel 2005) zeigt, dass die Pforten durch Anlage der Kanalbetten nicht nur geschwächt, sondern teilweise durchschnitten wurden. Bei der Eberswalder Pforte (Finow-Kanal sowie Oder-Havel-Kanal) liegt von den höher liegenden, über Wehre direkt angeschlossenen Gewässern der oberen Havel ausgehend das Niveau der regulären Kanalwasserstände zur Oder hin mit jedem Bauwerk tiefer.
Im Falle ausbleibender Unterhaltung der Abstiegsbauwerke und Notschotts könnte die obere Havel damit über die Kanalrinnen beider heutigen Kanäle in die Oder fließen.
Bei der Müllroser Pforte verläuft der Oder-Spree-Kanal zwar im Scheitelbereich mit höherem Wasserstand als dem der Spree, die Kanalsohle liegt aber, wie oben erwähnt, durchgehend knapp tiefer als die mittlere Wasserhöhe der Spree. Damit würde auch hier bei Versagen der Ingenieurbauwerke die obere Spree den Weg durch das Kanalbett zur Oder nehmen.
Bei der Buckower Pforte hätte die Kanalplanung gegen Ende des 19. Jh. auch eine „Durchörterung“ der Barriere zwischen Spree und Oder mit sich gebracht (Dalchow und Kiesel 2005).
Nun lässt sich gegen solche Szenarien einwenden, dass die Unterhaltung der Kanalbauwerke technisch und administrativ höchsten Ansprüchen genügt und damit bestmögliche Sicherheit gegeben ist. Andererseits fällt es schwer, auf Jahrhunderte gleichartig stabile Situationen zu garantieren. Die Einschnitte der Kanalbauten bleiben aber auch dann weiter bestehen, wenn sich die Organisationshöhe der Gesellschaft ggf. ungünstig verändert.
Ein Blick in die Geschichte zeigt, dass der erste, knapp vor dem 30jährigen Krieg fertig gestellte Kanal durch die Eberswalder Pforte („Erster Finowkanal“, gebaut 1605-1620, 11 Schleusen, Speisung über die Faule Havel) während der Kriegswirren in Richtung Oder „durchgebrannt“ ist, wie Berghaus (1855) darlegt:
Als bald nach der Vollendung des Werkes die Mark Brandenburg in Folge des dreißigjährigen Krieges den größten Drangsalen ausgesetzt war und fast ganz verheeret wurde, konnte auf die Erhaltung des ersten Finow-Kanals und seiner Schleusen keine Sorgfalt, noch weit weniger aber Kosten verwendet werden. Eine natürliche Folge war, dass die eben erst hergestellte Wasserstraße in Verfall gerieth und die Schleusen unbrauchbar wurden. Einige derselben wurden auch von den kriegführenden Völkern, von Kaiserlichen sowohl, als von Schweden, absichtlich zerstört.
Das Wasser stürzte also mit großem Ungestüm aus der Havel durch die Finow nach der Oder, wodurch nicht nur große Überschwemmungen entstanden, sondern auch die Finow unterhalb Neustadt-Eberswalde, besonders jenseits Nieder-Finow dergestalt versandete, dass sie fast gar nicht mehr mit Kähnen befahren werden konnte, und die Stadt Eberswalde an ihrer Schifffahrt und ihrem Handel nach der Oder großen Schaden erlitt; abgesehen davon, dass der Wasserstand der Havel unterhalb Liebenwalde bedeutend abnahm, und demgemäß die Mühlen bei Oranienburg und Spandow nicht mehr hinreichendes Betriebswasser hatten.
Zur Abhaltung des Havel-Wassers von der Finow sah man sich daher genöthigt, den Kanal in der Gegend von Zerpenschleuse mit einem starken Damme zu verschließen und ebenso die Schleuse bei Neustadt-Eberswalde mit Erde zuzuwerfen und einen Steindamm hinüberzuführen (Berghaus 1855, Bd. III, S. 190f).
Neben der historischen Beglaubigung der oben hergeleiteten Zukunftsszenarien bietet die Beschreibung der havariebedingten Havelumleitung folgende Aussagen über die Effekte der Anzapfung bzw. Umleitung des Wassers der oberen Havel:
-
- Überschwemmungen (im unteren Finowtal und Unteroderbruch),
- Versandung besonders unterhalb von Niederfinow (d. h. bis ins Oderbruch hinein),
- Behinderung / Unterbindung der Schifffahrt,
- niedriger Havelwasserstand laufabwärts des Anzapfungspunkts bei Liebenwalde, und damit
- fehlendes Betriebswasser für Mühlen.
Ergänzend (bzw. auf aktuelle Verhältnisse übertragen) kann gefolgert werden:
-
- Rückschreitende Eintiefung in den betroffenen oberen Kanalabschnitten bis in die obere Havel (Liefergebiet des erwähnten Sandes) sowie
- Unterversorgung des Berliner Raums mit Havelwasser.
Als Sofortmaßnahme wurde der außer Kontrolle geratene erste Finowkanal bei Zerpenschleuse verschlossen – also genau an der Talwasserscheide. Durch erneutes in Kraft setzen der natürlichen, wenn auch niedrigen Grenze zwischen den Flussgebieten glaubte man, die Havarie am nachhaltigsten zu beheben.
Ausblick
Das Oderbruch (Abb. 17) liegt im Kreuzungsbereich der außer Kraft geratenen Entwässerungsbahn entlang eines ehemaligen Eisrandes mit einem anschließend gebildeten nordwärtigen Fließweg (Oderverlauf ab Ratzdorf). Eingebunden in ein weit gespanntes System vergleichbarer Verschneidungen von Talrichtungen erhalten Oder (und Oderbruch) Zuflüsse ganz überwiegend von Osten. Die darin fortwirkende eiszeitliche Prägung des nordmitteleuropäischen Gewässernetzes wird in geologisch naher Zukunft durch Anzapfung von Flüssen, die heute unmittelbar westlich der Oder liegen, aber zur Elbe fließen, abgebaut. Das Einzugsgebiet der Oder gewinnt damit an Symmetrie, verliert seine Jugendlichkeit, es „reift“. Die Bedingungen zu diesem weiteren Umbau sowie dessen mutmaßliche Lokalitäten („Sollbruchstellen“ zwischen den Flussgebieten) wurden in diesem Beitrag erläutert.
Darüber hinaus wurde gezeigt, dass der Mensch durch Nutzung dieser Sollbruchstellen für Kanalbauten der Reifung der Landschaft potenziell vorgreift – und damit weitere Verantwortung für die langfristige Landschaftsformung übernimmt.
Literatur
[zusätzlich zu der in Dalchow, C. & J. Kiesel (2005): Die Oder greift ins Elbegebiet – Spannungsverhältnisse und Sollbruchstellen zwischen zwei Flussgebieten. – Brandenburger Geowissenschaftliche Beiträge 12,1/2: 73-86; Kleinmachnow (LBGR) aufgeführten] <<< Download pdf-Datei
BERGHAUS, H. (1855): Landbuch der Mark Brandenburg und des Markgrafthums Nieder-Lausitz in der Mitte des 19. Jahrhunderts; oder geographisch-historisch-statistische Beschreibung der Provinz Brandenburg, auf Veranlassung des Staatsministers und Ober-Präsidenten Flottwell. Zweiter Band. – 630 S., Brandenburg a.d.H. (Verlag Adolph Müller)
Brose, F. (2005): Zur geomorphologischen Entwicklung Brandenburgs. – Brandenburger Geowissenschaftliche Beiträge 12,1/2: 153-163; Kleinmachnow (LBGR)
Danksagung
Die Autoren danken Herrn Dr. Ralf Dannowski, Müncheberg, für die mit sachdienlichen Hinweisen und Diskussionen verbundene konstruktiv-kritische Durchsicht des Manuskripts.
Dr. rer. nat Claus Dalchow, Jg. 1957, ist Publikationsmanager am Leibniz-Zentrum für Agrarlandschaftsforschung (ZALF) in Müncheberg.
Er studierte Geographie und Germanistik an der Technischen Universität Braunschweig und promovierte 1990 im Fach Bodenkunde an der Technischen Universität Berlin zu Themen der Landschaftsgenese. Nach zwei Jahren als assistant managing editor beim einem internationalen geowissenschaftlichen Verlag führte ihn 1993 der berufliche Wechsel zum ZALF in die unmittelbare Nähe des Oderbruchs. Neben dem Publikationsmanagement bildeten Landnutzungsgeschichte, historische Bodenerosion sowie Landschaftsgenese einen wiederkehrenden Gegenstand seiner Forschungsarbeiten, die neben Fachbeiträgen auch in populärwissenschaftlicher Vermittlung Ausdruck finden.
Claus Dalchow hat einen Lehrauftrag an der Universität Potsdam und ist Vorstandsmitglied der in Möglin ansässigen Fördergesellschaft Albrecht Daniel Thaer.
Joachim Kiesel, Jg. 1952, ist wissenschaftlicher Mitarbeiter im Institut für Landschaftssystemanalyse des Leibniz-Zentrum für Agrarlandschaftsforschung (ZALF) in Müncheberg.
Seit mehr als 15 Jahren beschäftigt er sich mit der Anwendung von geographischen Informationssystemen (GIS) in der Landschaftsforschung, wobei die Entwicklung und Anwendung von skalierbaren Interpolations- und Generalisierungsmethoden zur Beschreibung der Verteilung von biotischen und abiotischen Landschaftskomponenten und zur Ausgrenzung von Potenzial- und Konfliktbereichen der Landnutzung im Mittelpunkt steht.
Ein Schwerpunkt der Arbeit ist die Erstellung, Bewertung und Nutzung von digitalen Geländemodellen (DGM) zur Ableitung von Reliefparametern und für die Visualisierung. Insbesondere bei der Reliefgeneralisierung als notwendiger Schritt bei der hochqualitativen 3D-Visualisierung und der Verknüpfung mit hoch auflösenden Luft- und Satellitenbildern konnten eindrucksvolle Ergebnisse erzielt werden.
Weitere Beiträge:
<<< Das alte Strombett – Eine Sage zum Thema – gefunden von Ina Wilhelm, (2006)