Dinge sprechen lassen!
Erfahrungsbericht zur Exkursion von Heim(at)arbeit am 14. und 15. Juni 2018
Vor 40 bis 50 Jahren noch war es selbstverständlich, dass Jugendliche, die im ländlichen Raum aufwuchsen, das Wirtschafts- und Sozialleben ihrer Umgebung aus nächster Nähe miterlebten. Es gab die Heuernte, bei der alle mithelfen mussten, die Wirtin, den Bäcker, den Arzt am Ort, den jeder kannte. Der Lebensraum war zwar nicht facettenreicher, – aber seine Facetten waren allen, die hier lebten, bekannt. Er bedeutete insofern allen etwas. Gutes oder Schlechtes. Gründe zu bleiben, Gründe zu gehen. Manche wussten schon früh, welchen Platz sie später einnehmen würden.
Wer heute auf dem Land zur Schule geht, die ihn auf das Leben und den Beruf vorbereiten soll, ist oft eher wie in einer Raumkapsel unterwegs. Vom späteren Leben ist nur so viel bekannt: dass es bestimmt weit weg stattfinden wird. Etwas anderes ist auch schwer vorstellbar. Denn von dem Tätigkeitsraum, der einen umgibt, fehlt die Vorstellung.
Heim(at)arbeit versucht hier, eine Lücke zu schließen. An den Schulen „Evangelisches Johanniter-Gymnasium“ und „Salvador Allende-Oberschule“ in Wriezen macht das Projekt Schüler aus achten und neunten Klassen mit Menschen bekannt, die im Oderbruch leben und tätig sind: mit Mitgliedern der Berufsfeuerwehr, Zeitungsredakteuren, Landwirten, Künstlerinnen und Gastwirten. Mit Arbeitnehmern im klassischen Sinne – oder solchen, die Leben und Arbeit zwar nicht völlig neu erfinden, – aber doch Neues ausprobieren. Mit Leuten, die sich in Vereinen engagieren, Strukturen aufrechterhalten und das Oderbruch zu dem machen, was es ist.
An diesem Abenteuer nahm ich an zwei Projekttagen am 14. und 15. Juni des Evangelischen Johanniter-Gymnasiums teil. Ein Abenteuer war es für mich tatsächlich. Ich arbeite als Autorin und habe selten mit Schülern neunter Klassen zu tun. In kleinen Gruppen machten wir uns zu verschiedensten Gesprächspartnern auf den Weg, die die Schüler interviewten. Meine Gruppe – bestehend aus drei Mädchen – trafen erst Daniel Werner, der Personalleiter beim Rettungsdienst in Bad Freienwalde ist, dann Nadja Voigt, Redakteurin bei der örtlichen MOZ. In beiden Gesprächen überraschte mich, wie wenig das Bild, das unsere Gesprächspartner von ihrem Tun und ihrem Leben gaben, den gängigen Vorurteilen entsprach. Glauben viele, im ländlichen Raum gebe es keine qualifizierten und gut bezahlten Jobs, gab Daniel Werner Einblick in Aufgaben, die anspruchsvoll sind – bei einem Gehalt, das komfortabel ist – und Berufsperspektiven für Schulabgänger im Oderbruch. Im Gespräch mit Nadja Voigt erlebe ich, wie eine Frau, die aus Berlin stammt, den Schülerinnen erzählt, wie sie aus freien Stücken aus der Metropole weg aufs Land zog. Um nicht im Wissenschaftsbetrieb zu arbeiten, sondern in einer Lokalredaktion. Am liebsten, sagt sie, schreibe sie Geschichten über das Leben der Leute vor Ort. Und das klingt nicht aufgesetzt, sondern echt. Und die Schülerinnen giggeln nicht, sondern hören zu. Stellen Fragen. Machen Notizen. Steht ein Lehrer vor einer Klasse, ist es schwer, diese ruhig zu halten. Sind Schüler in einer Gesprächssituation, die sie selbst lenken können, entwickeln sie ein eigenes Interesse. Und plötzlich geht es in den Gesprächen um weit mehr als Arbeit, Gehalt oder Karrierechancen. Es geht um Lokalereignisse, Rettungseinsätze und das soziale Leben in der Region. Und um die Frage, wo man gern lebt und wie man sich im Raum verortet. Sowohl Nadja Voigt als auch Daniel Werner erzählen authentisch und ausgesprochen ungekünstelt davon, wie verbunden sie sich mit ihrer Umgebung fühlen und wie wichtig es ihnen ist, hier zu leben und hier nützlich zu sein.
Im Anschluss gibt uns jeder Gesprächspartner ein „Mitgebsel“ mit, das er typischerweise im Alltag verwendet: ein Werkzeug etwa oder ein Kleidungsstück. In der zweiten Tageshälfte entwickeln die Schüler ein Hörstück, in dem sie diese Dinge aus ihrer Perspektive erzählen lassen, wie sie die Welt erleben. Die Stücke, die die Schüler selbst entwickeln, einsprechen und aufnehmen, übersetzen die Eindrücke des Tages in eine neue Form. Sie lassen Ideen, Interpretationen und spontane Pointen zu. Sie erzählen vom Glück eines Schlüssels, „mit seinen Freunden am Schlüsselbund abzuhängen“, dem Erleben eines Speicherchips, der die Redakteurin während der Recherche begleitet und von der Angst eines Nagels vor dem nächsten Hammerschlag.
Die Projekttage waren von einer Dichte, die alle Beteiligten stark forderte. Am meisten berührte mich die Nähe, die zum Teil in den Gesprächen entstand. Mein Eindruck war, dass derartige Begegnungen wirklich wertvoll sein können. Verblüffend, dass das Projekt-Konzept so gut aufzugehen schien.
Bericht von Tina Veihelmann